Abstract (deu)
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema Musik und Gebärdensprache. Die zentrale Frage lautet dabei: Gibt es eine Gebärdenmusik und, wenn ja, was bedeutet dies und wie lässt sich diese beschreiben? Ziel ist es, verschiedene gebärdenintegrierende musikalische Ausdrucksformen vorzustellen und zu untersuchen, welche musikalischen Parameter in Gebärdensprache übertragbar sind. Einen Schwerpunkt stellt dabei die Analyse des Werkes Verlorenwasser (aus: Der Ort / Musikalisches Opfer) für Soli, Gebärdenchor, großes Orchester, Live-Elektronik und CD-Zuspiel von Helmut Oehring dar. Zu Beginn wird eine Einführung in die Deutsche Gebärdensprache gegeben. Dabei handelt es sich um ein komplexes, unabhängiges Sprachsystem mit einer eigenen Grammatik des Raums. Grundlage der Gebärdensprache bilden die manuellen (Hände und Arme) und die nicht-manuellen (Bewegungen des Oberkörpers und des Kopfes; Mimik und Mundgestik) Artikulatoren. In der Auseinandersetzung mit der Gehörlosenkunst werden verschiedene gebärdenintegrierende musikalische Ausdrucksformen vorgestellt, die sich ausgehend oder in Kombination mit Theater, Tanz und Poesie in den letzten rund dreißig Jahren international entwickelt haben. Dazu zählen das sogenannte song signing, die Gebärdensprachpoesie und der große Bereich der Musikperformances von Gehörlosen. Diese Formen können der populären Musik zugeordnet werden und finden überwiegend mit und seltener ohne Begleitung von Musik statt. Eine Sonderstellung nimmt das Musikdolmetschen ein, da es in der Regel von Hörenden für Gehörlose ausgeübt wird und daher nicht als Gehörlosenkunst verstanden werden kann. Allen Ausdrucksformen gemeinsam sind jedoch einerseits die Übertragung bestimmter musikalischer Parameter, wie Rhythmus, Tempo und Lautstärke in die Gebärdensprache, und andererseits ihre visuelle Modalität. Dadurch ist eine Verwandtschaft zur sogenannten visible music gegeben, die sich im Zuge musikalisch-theatraler Experimente in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte. Solche sichtbare und gestische Musik, basierend auf Körperbewegungen aller Art, Gesten und Gebärden, führte zu einem Umdenken und infolgedessen zu einer Erweiterung des traditionellen Musikbegriffs. In der Verlängerung dieser musikhistorischen Achse ist das Werk Helmut Oehrings, hörender Sohn gehörloser Eltern, anzusiedeln. Im Zentrum seiner Kompositionsweise steht zum einen die Umwandlung von Gebärden in Klang, und zum anderen die Einbeziehung von gehörlosen Darstellern. Vergleichbar dem Einsatz musikalischer Gesten in Werken von Dieter Schnebel werden in Verlorenwasser die Gebärden von Gehörlosen zu musikalischem Material und zu einer eigenen Stimme des Orchesters. In diesen Musikgebärden vereinen sich die Eigenschaften des song signing, des Musikdolmetschens und der Gebärdensprachpoesie. Für die Partitur und das Programmheft wurden die Gebärden annäherungsweise in Lautsprache übersetzt. Als weitere Schicht der Oehringschen Kompositionsweise entsteht dadurch eine poetische Kunstsprache. Musik zu schreiben bedeutet für den Komponisten eine Möglichkeit, die Gebärdensprache schriftlich festzuhalten, und stellt somit den Versuch dar, die Welt der Gehörlosen mit jener der Hörenden zu verbinden. Durch den Einsatz von Gebärdensprache in seine Kompositionen erschafft Helmut Oehring eine künstlerische Ausdrucksform, welche poetischen Inhalt mit Musik verknüpft.