Abstract (deu)
Diese Arbeit beschäftigt sich mit Raumkonstruktionen in Thomas Bernhards Roman Verstörung. Diese sind nicht als simpler Hintergrund, sondern als essentielle Erzählfunktion zu bewerten. „Wir müssen alles immer auf das Geometrische hin, von dem alles abhängt, anschauen“(Ve 187), behauptet die Figur des Fürsten Saurau und legt die zentrale Rolle des Raumes nahe. Mit der Hilfe raumtheoretischer Texte können Mechanismen zur Konstitution des Raumes aufgedeckt werden, sowie deren Struktur und Bedeutung durch Modelle erfasst und beschrieben werden. Durch die verwendeten Arbeiten von Michel Foucault, Michel de Certeau, André Leroi-Gourhan und Wolfgang Iser können auch komplexe Räume aufgeschlüsselt werden. Dabei sind hier insbesondere Heterotopoi, die Praktiken im Raum, die Domestikation des Raumes und das Imaginäre Teil der Analyse.
Zuerst fällt der Raum der Schlucht aufgrund seiner Unwirtlichkeit ins Auge. Die extreme Tiefe bzw. Enge und die daraus folgende Finsternis sind erste Indizien, dass es sich um einen anderen Raum handelt. In Foucaults Konzept des Heterotopos entsprechen diese, als Abweichungen von der Norm, dem ersten Grundsatz. Die Fochlermühle in der Schlucht wird durch die lebendig verwesenden Bewohner und fehlgeleiteten Praktiken als kranker irrsinniger Raum konstituiert. Die anderen Grundsätze des Heterotopos, Brüche von Zeit und Raum oder ein System der Abgeschlossenheit, können ebenfalls nachgewiesen werden. Die Funktion des Raumes konnte als illusorische Heterotopie analysiert werden, deren Aufgabe darin besteht, alle anderen Räume als Illusion zu entlarven. Dies geschieht in der Schlucht insofern, als die idyllische Naturauffassung und der Wirklichkeitsbegriff dekonstruiert werden, wodurch die Welt außerhalb in Frage gestellt wird.
In Bezug auf die räumlichen Relationen im Roman sticht besonders der Hoch-Tief Kontrast hervor. Bei einem Vergleich der verschiedenen Schauplätze fallen die Extreme der Saurauschen Burg und der Schlucht auf. Entlang der vertikalen Achse scheint sich auch eine Differenzierung innerhalb der Bevölkerung zu vollziehen, doch es wurde analysiert, dass die entscheidende räumliche Variable die Perspektive ist. Jene Figuren, die zu intellektuellen Leistungen fähig sind, haben auch räumlichen Ausblick. Dieser kann im realistischen oder im imaginierten Raum vorhanden sein. Des Weiteren zeichnet sich eine Bewegung von der Peripherie ins Zentrum ab, die anhand einiger anderer Diskurse, wie außen zu innen, einfach zu komplex, lokal zu universal oder Körper zu Geist verfolgt werden kann. Grundsätzlich sind diese, ebenso wie die Opposition von Hoch und Tief, aber nicht linear und geradlinig, da Bernhard die binären Begrifflichkeiten relativiert und dekonstruiert. Dieses Widerstreben gegen eine exakte Kartographierung kann der Heterotopizität der Räume zugeschrieben werden.
Generell scheint die Landschaft im Roman der menschlichen Zivilisation entgegengesetzt zu sein. Damit die Natur einen brauchbaren Lebensraum darstellt, muss ein differenzierter Kulturraum etabliert werden, ansonsten zerstört oder korrumpiert sie die Bewohner. Allerdings scheitern früher oder später die Strategien der Domestikation des Raumes an der Unzähmbarkeit der äußeren oder inneren Natur. Dies gilt zumindest für die Etablierung eines statischen Raumes, doch das dynamische Erfassen des Raumes der Besucher scheint zu funktionieren.
Die Konstitution des Raumes ist stark von einer Wechselwirkung zwischen den Figuren und dem Raum geprägt. Einerseits beeinflusst der Raum die Figuren, und andererseits spiegelt sich im Raum die Innenwelt der Figuren. Die Unterscheidung von eigenem und fremdem Raum, sowie die Grenzziehung zwischen diesen Räumen sind hierbei essentiell. Bei Grenzübertretungen kann es zu spontanen Änderungen der Gefühlslage kommen. Dem gegenüber steht die dauerhafte Prägung des Raumes durch die Figuren. Als Spiegel bildet der Lebensraum eine Seelenlandschaft. In ihr erkennen die Figuren ihre Gefühlregungen wieder und es kommt zur Verräumlichung der Seele. Im Laufe des Romans gewinnen die imaginierten Anteile Überhand und es kommt zum Verschwimmen der Grenzen zwischen realistischen, erinnerten und imaginierten Räumen. Aus räumlichen Relationen und Bildern kann somit auf die Innenwelt geschlossen werden. Hochgobernitz und die Praktiken des Fürsten lassen sich als eine Verräumlichung des Imaginären entziffern. Seine Bewegung in den verschiedenartigen Räumen spiegelt das Spiel wieder, das sich aus dem Potential des Imaginären ergibt. Es zeigt sich die Geometrie des Imaginären.