Abstract (deu)
Insbesondere seit der Politisierung der Europäischen Union durch den Vertrag von
Maastricht wird die Debatte um ein existentes Öffentlichkeitsdefizit der
Europäischen Union offen geführt (Gerhards 2002, 1). Während ein Teil der
sozialwissenschaftlichen Forschung davon ausgeht, dass ein solche Europäische
Öffentlichkeit mangels dafür charakteristischer Indikatoren – wie etwa gemeinsamer
Sprache, europäischer Identifikation oder europaweiter Massenmedien – nicht
entstehen könne (z.B. Grimm 1995), versuchen neuere Ansätze eine solche –
womöglich schon in Ansätzen bestehende – Öffentlichkeit über alternative Theorien
zu analysieren (z.B. Trenz 2001, Meyer 2000; Eder 2000; Gerhards 2002). Auch die
politischen Akteure der Europäischen Union erkennen mittlerweile die Bedeutung
dieser Thematik und versuchen zum Teil schon aktiv, die Konstituierung einer
Europäischen Öffentlichkeit zu fördern (z.B. Kom 2001; EP 2010). Gerade der enge
Zusammenhang von Öffentlichkeits- und Demokratiedefizit der Union (Gerhards
2002) lassen erkennen, dass die Lösung dieser Fragen potentiell umfassende
Auswirkungen auf die europäische Legitimation, Identifikation und somit auf die
Zukunft der Europäischen Integration in ihrer Gesamtheit haben kann.
Die vorliegende Forschungsarbeit soll einen Beitrag zur steten Debatte um das
Öffentlichkeitsdefizit liefern und erörtern, wie ein solches im Rahmen eines
bestimmten angewandten theoretischen Konzepts wirksam bekämpfbar sei. Die
gegenständliche Forschungsarbeit beschränkt sich daher auf theoretische
Ausführungen. Auf umfassende empirische Erhebungen zur Qualität der
Europäischen Öffentlichkeit (s z.B. bei Scharkow 2005) wird verzichtet.
Im Rahmen der Forschungsarbeit wird die Europäischen Öffentlichkeit als Raum
zwischen Sprechern und Publikum, dessen Zugang prinzipiell offen ist und in dem
sich individuelle und kollektive Akteure aus dem politischen Raum der EU vor einem
breiten Publikum zu europäischen politischen Themen äußern (Jarren/Donges 2006,
96; Gerhards/Neidhart 1990; Trenz 2005, 60; Scharkow 2005, 5) definiert. Diese
Begriffsfindung beinhaltet den Vorteil der Miteinbeziehung der europäischen
politischen Dimension und der Verknüpfung des Verständnisses von Öffentlichkeit als
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Raum sowie als Kommunikationsprozess, lässt aber ebenso die theoretische
Aufsplitterung in Teilöffentlichkeiten grundsätzlich zu. Um den Untersuchungsobjekt
einer theoretischen Untersuchung zugänglich zu machen, wird in der
gegenständlichen Forschungsarbeit das Modell der Europäisierten nationalen
Öffentlichkeiten (Gerhards 2002, 9) herangezogen. Dieses setzt prinzipiell weder die
aktive Unterstützung von Massenmedien, noch die Entwicklung einer gemeinsamen
europaweiten Sprachgemeinschaft, noch die Begründung eines gemeinsamen demos
voraus.
Um in einem überschaubaren theoretischen Rahmen zu bleiben, bietet es sich an, die
theoretischen Ansätze zur Europäischen Öffentlichkeit an die normativen
Rahmenbedingungen des europäischen Primärrechts zu koppeln. Dies lässt zwar
nationale Eigenheiten unberücksichtigt, fingiert jedoch einen einheitlichen
europäischen Raum, in dem sich die Öffentlichkeit konstituieren könnte. Aus
aktuellem Anlass erscheint es sinnvoll, bei Ausformulierung eines theoretischen
Modells der Öffentlichkeit dieses im Lichte der Vertragsnovellierung von Lissabon
(Lissabonner Reformvertrag) erscheinen zu lassen.
Als diesbezüglich zentraler theoretischer Ansatz wird daher auf die Ausführungen von
Jürgen Gerhards in dessen Schrift „Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont
normativer Öffentlichkeitstheorien“ (2002) eingegangen, in denen Gerhards
einerseits den normativen Gehalt der Öffentlichkeit, andererseits vermeintliche
Ursachen sowie Lösungsansätze zur Bekämpfung des Europäischen
Öffentlichkeitsdefizits erörtert. Gemäß den theoretischen Ausführungen Gerhards
ließe sich das Europäische Öffentlichkeitsdefizit vor allem durch die normative
Berücksichtigung und Förderung dreier Faktoren bekämpfen, nämlich durch
Erhöhung und Intensivierung der Ressourcen und Präferenzen jeweils für eine
europäische Berichterstattung, für die Aufmerksamkeit des Publikums für
europäische Themen sowie für die politischen Akteure, sich selbst medial zu
vermitteln.
Die Forschungsarbeit folgt somit dem Konzept, die drei Gerhardschen Faktoren
anhand der primärrechtlichen Rahmenbedingungen in der Fassung des Vertrags von
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Lissabon zu analysieren und zu klären, ob die ausformulierten Kriterien durch die
Vertragsänderung positiv tangiert wurden oder nicht.
Engt man den Begriff nun anhand des Modells der Summe der Europäisierten
nationalen Öffentlichkeiten (Gerhards 2002) ein und beleuchtet man diese unter dem
Blickwinkel der drei Gerhardschen Faktoren zur Konstituierung einer Europäischen
Öffentlichkeit, namentlich der Ressourcen und Präferenzen für eine europäische
Berichterstattung, der Ressourcen und Präferenzen für die Aufmerksamkeit des
Publikums für europäische Themen sowie den Ressourcen und Präferenzen der
politischen Akteure, sich selbst medial zu vermitteln, so lässt sich grundlegend
feststellen, dass die aktive Veränderung normativer Rahmenbedingungen im
Lichte des Gerhardschen Ansatzes (2002) theoretisch geeignet ist, die Qualität
der Europäischen Öffentlichkeit effektiv zu beeinflussen. Gerade der
Ratifikationsprozess zum Vertrag von Lissabon hat aber ebenso verdeutlicht, dass
eine Abschottung der politischen Eliten negative Folgen für das Entstehen einer
Europäischen Öffentlichkeit haben kann. Sofern am Ziel der Konstituierung einer
Europäischen Öffentlichkeit festgehalten werden soll, so werden es die politischen
Eliten wohl zukünftig riskieren müssen, auch heikle politische Themen in der
Öffentlichkeit zu präsentieren und gegebenenfalls die Bürger aktiv mitentscheiden zu
lassen.