Description (de)
von Musils monumentalem Roman mit dem Fokus auf dessen zeithistorische bzw. gesellschaftsanalytische
Leistung. Sie stützt sich unter anderem auf Pierre Bourdieus Konzept einer Sozioanalyse literarischer Texte,
das für literaturwissenschaftliche Zwecke adaptiert, durch Anleihen aus der neueren Erzähl-, Diskursund
Medientheorie ergänzt sowie durch Befunde der Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung empirisch
gesättigt wird.
Ausgehend von einer Rekonstruktion der ‚negativen‘ Anthropologie Musils, seiner gleichermaßen analytischen
und konstruktivistischen Romankonzeption sowie seiner essayistischen, ‚antifilmischen‘ Poetik
werden im ersten Teil der Untersuchung mit der „Eigenschaftslosigkeit“ und dem „Möglichkeitssinn“
(bzw. dem ‚Essayismus‘) zunächst zwei Grundbegriffe des Romankonzepts auf ihre sozioanalytischen
Implikationen hin profiliert. Darauf folgt im Hauptteil der Arbeit die Lektüre des Romantextes als gesellschaftliches
Kräftefeld, d.h. zunächst eine Analyse des erzählerisch konstituierten Chronotopos und ‚sozialen
Raumes‘ Kakanien, sodann der zentralen männlichen und weiblichen Figuren des Romans (in den
Abschnitten Erben und Enterbte; Aufsteiger und Gebremste; Terroristen und Propheten sowie Gefallene Geliebte; Leidende
an einer ‚geheimnisvollen Zeitkrankheit‘; Angepasste und Dissidentinnen) und zuletzt der figuralen Konstellationen
und Interaktionen in ihrer künstlerischen Gestaltung (in den Abschnitten Ehen in der Krise; Unordentliche
Verhältnisse, Geschlechterkampf; Liebesversuche jenseits der Ehe sowie Konkurrenz um Prinzipien und Menschen;
Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf). Musils zeitkritischer Diagnose einer im widersprüchlichen Modernisierungsprozess
befindlichen Gesellschaft und seinen konkreten historischen bzw. ideologischen Bezugspunkten
in der konfliktreichen österreichischen und deutschen Vor- und Zwischenkriegszeit gilt dabei ein
besonderes Augenmerk, sind es doch gerade auch diese bisher weniger beachteten Aspekte, die den epochalen
Romantorso so einzigartig und unvergleichlich erscheinen lassen. Ein abschließender Teil beschäftigt
sich mit der Stellung des Romans und seines Autors im zeitgenössischen literarischen Feld sowie mit
dessen indirekter schriftstellerischer Selbstanalyse, die auf versteckte Weise im Medium des fiktionalen
Erzähltextes erfolgt.
Mit der hier unternommenen Sozioanalyse des Mann ohne Eigenschaften wird Bourdieus innovativer kultursoziologischer
Ansatz erstmals in dieser Konsequenz und Ausführlichkeit auf einen kanonischen
deutschsprachigen Roman angewendet. Eine Besonderheit der Untersuchung besteht außerdem in der
theoriegeleiteten Integration genauer Textanalysen und einer breiten kultur- und literaturgeschichtlichen
Kontextualisierung, die sich nicht nur auf Musils Essays und seinen umfangreichen Nachlass (Notizen und
Fortsetzungsentwürfe), sondern auch auf zahlreiche diskursive Zusammenhänge mit der zeitgenössischen
österreichischen und deutschen Politik und Wissenschaft sowie der deutschsprachigen und internationalen
Literatur erstreckt. Der Mann ohne Eigenschaften wird somit als moderner Klassiker der europäischen Literatur
lesbar, der die Wurzeln der Katastrophengeschichte des frühen 20. Jahrhunderts schonungslos offen
legt und dessen kritische Befunde weit über den sozialwissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Zeit hinausweisen.
Keywords (de)
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, Pierre Bourdieu, cultural history