Abstract (deu)
Ausgehend von der Bedeutung des Zweiten Weltkriegs bzw. Großen Vaterländischen Kriegs
für die russische nationale Identität und den Besonderheiten der russischen Erinnerungskultur,
wird die Rolle der Erinnerung an diesen Krieg in der russischen strategischen Kultur untersucht.
Da militärische Eliten als wichtige Träger strategischer Kultur gelten und sich Texte und
Dokumente als Untersuchungsgegenstand eignen, wurde für die Analyse die russische militärwissenschaftliche
Zeitschrift Voennaja Mysl' (2014-2018) ausgewählt. Das Material wird im
Rahmen einer Diskursanalyse mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse basierend auf
Grounded Theory analysiert. Im Fokus stehen die Fragen nach der Funktion der Erinnerung an
den Zweiten Weltkrieg abseits nationalistischer Mobilisierung, Abweichungen vom offiziellen
Geschichtsbild, sowie die Auswirkungen auf außenpolitische Handlungsmöglichkeiten
Russlands. Ich argumentiere, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg Kontinuität,
Stabilität und Legitimität herstellen soll, und zwar sowohl für das russische Regime innerhalb
Russlands und auf der Weltbühne, als auch für das Militär als Akteur und die Militärwissenschaften
im Speziellen. In diesem Kontext sind auch Abweichungen vom offiziellen
Geschichtsbild zu sehen. Der Vorwurf der Geschichtsverfälschung durch den Westen lässt sich
in die aktuelle russische Bedrohungswahrnehmung einordnen, die durch den Fokus auf innere
Sicherheit und Regimestabilität, sowie die Angst vor Farbrevolutionen charakterisiert wird. Für
die tatsächliche Einschätzung von aktuellen Konflikten spielt der Zweite Weltkrieg weniger
eine Rolle, wenngleich die Angst vor einem neuerlichen Angriff auf Russland bestehen bleibt.
Die Bezugnahmen auf den Zweiten Weltkrieg entsprechen außerdem der strategischen Kultur
des Landes (v.a. Streben nach Anerkennung und Zugehörigkeit, Großmachtstreben).