Das Ziel dieser Vorlesung besteht darin, Ihnen philosophische Konzeptionen des Herzens aus dem indischen Kulturkreis vorzustellen. Das Herz bezeichnet im Kontext indischer Philosophien weniger ein Organ innerhalb des menschlichen Organismus, als ein weltweiter Raum, den alle Dinge bewohnen können. Wie es die Schöpfungshymne im ältesten Veda, dem Ṛgveda sagt, reicht der Herzraum von den ozeanischen Tiefen des Unbewussten bis in die lichten Höhen des Übermenschlichen. Kraft dieser unermesslichen Weite vermag der Herzraum die äußersten Enden der Welt so miteinander zu verbinden, dass in ihm die Gegensätze ihre Unversöhnlichkeit verlieren. Sein (sat) & Nichtsein (asat), das Anwesende und das Abwesende, soziale Unterschiede und Gender-Differenzen werden durch die queere Praxis des Herzens zu regionalen Unterscheidungen, die in der allversammelnden Weite des Herzens ihren Sinn und ihre Bedeutung verlieren. Es wurde daher gesagt (Ṛgveda X.129), dass die vedischen Poeten und Seher erst durch die intensive Erforschung ihrer Herzen jene Flüsse der Klarheit freilegen konnten, die es ihnen erlaubte, die gnostische Ebene (vijñānamayakośa) einzusehen, nach der ihre Herzen solange gestrebt hatten.
Was aber hat Wahrheit (ṛtam) mit dem Herzen (hṛdaya) zu tun?
Ist das Herz ein Erkenntnisorgan?
Ist es eingehüllt in das, was indische Philosophien Erkenntnishülle nannten (vijñānamayakośa)?
Und wenn es einen eigenen Bezug zur Wahrheit haben sollte, welche Wahrheit(en) vermag das Herz einzusehen? Und wie unterscheidet sich diese Einsicht von anderen Formen der Einsicht?
Etwa von den Einsichten des mentalen Denkens (manomayakośa), der Vitalkräfte (prāṇamayakośa) oder unserer Physis (annamayakośa)?
Warum sprechen asiatische Philosophien vom Herz & vom Verstand oft gerade so, als würden sie beide im Grunde ein gemeinschaftliches Gefüge bilden, das zusammengehört (Heart-mind)?
Und warum vermag das Herz nach asiatischer Lehre nicht nur Gegenwärtiges und Vergangenes, sondern auch Zukünftiges zu empfinden?
Fragen über Fragen, die im Rahmen dieser Vorlesung auf die Frage hinauslaufen, zu klären, was es heißt, mit dem Herzen zu denken (sahṛdaya), sprich herzlich zu denken. Es ist bezeichnend, dass dieses Wort vor allem in der indischen Ästhetik auftaucht. Die Bühne wird im Kontext indischer Philosophien oft als Herzraum beschrieben, in dem sich ein pulsierendes Gefüge zwischen den Künstler:innen und dem Publikum auftut, das beide Seiten auf vibrierende Art und Weise empfindungsmäßig miteinander verbindet.