Abstract (deu)
Der Mathematiker, Kinderbuchautor und Fotograf Lewis Carroll (1832-1898), der vor allem als Schöpfer von "Alice im Wunderland" weltberühmt wurde, hat in seinem gesamten Leben und Werk in essenzieller Weise die kindliche Unschuld hochgepriesen, die er auf das bürgerliche viktorianische Mädchen fokussierte. Aus der Sicht des 20. und 21. Jahrhunderts können manche Ausdrucks- und Verhaltensweisen Carrolls, insbesondere seine zahlreichen Freundschaften mit kleinen Mädchen, seine diesbezüglich oft schwärmerischen Äußerungen in Tagebuch und Briefen sowie seine Mädchenfotografien, die auch Nacktaufnahmen beinhalten, mitunter Argwohn erregen. Um einseitige - oft stark sexualisierte - Interpretationen von Carrolls Leben und Werk zu vermeiden, erscheint eine Betrachtung desselben innerhalb des kulturellen und traditionellen Kontextes unumgänglich. Diese Arbeit versucht zu zeigen, dass Carrolls Kindheitsbild sich gewissermaßen als Kulminationspunkt einer langen Traditionslinie einer spirituell fundierten Verehrung der kindlichen Unschuld positionieren lässt, die - bereits in der Antike wurzelnd und das Mittelalter im Widerstreit mit der augustinischen Erbsündenlehre überdauernd - im 18. und frühen 19. Jahrhundert insbesondere mit Rousseau und den Autoren der Romantik zur vollen (säkularisierten) Ausformulierung gelangte. Sowohl die allmähliche Heranreifung des romantischen Mythos der kindlichen Unschuld, der - im Rahmen einer gesellschafts- und wissenschaftskritischen Haltung - das Kind als Gegenpol des von seinem (göttlichen) Ursprung entfremdeten erwachsenen Menschen sieht, als auch die Bedrohung und Krise des romantischen Mythos von der kindlichen Unschuld, die mit seiner fortschreitenden Popularisierung und durch zunehmende Verwissenschaftlichung des Blicks auf den Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzt, werden ausführlich behandelt. Es wird gezeigt, dass Lewis Carrolls Leben und Werk als an eben jenem Kulminations- und Wendepunkt stehend aufgefasst werden kann, an dem der romantische Mythos vom unschuldigen Kind gewissermaßen äußerlich übersteigert wird und gleichzeitig kollabiert. Ein wesentliches Anliegen der Arbeit ist es, zu zeigen, dass sich Carrolls Blick auf das Kind bei näherer Betrachtung jedoch in essenzieller Weise noch an dessen spirituelle Grundierung gebunden zeigt und damit der Krisensymptomatik des romantischen Unschuldsmythos seiner Zeit trotzen kann.