Abstract (deu)
Der zunehmende Bedeutungsverlust traditioneller sozialästhetischer Hierarchien stellt eine zentrale Herausforderung für die Kultursoziologie dar: Resultiert daraus die Erosion sozialer und kultureller Überlegenheitsansprüche oder entstehen stattdessen neue Formen soziokultureller Distinktion? Während die Brüchigkeit der Dichotomie von Hoch- und Popularkultur Gegenstand zahlreicher Untersuchungen ist, blieben ähnliche Entwicklungen innerhalb der Popularkultur bislang weitgehend unberücksichtigt. Vor diesem Hintergrund stehen die sozialen und ästhetischen Transformationen im Feld der populären Musik im Mittelpunkt dieser Dissertation.
Ausgehend von Pierre Bourdieus Konzeption von Musikgeschmack als Mittel sozialer Exklusion, den Repräsentationstheorien der Cultural Studies sowie Ansätzen in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus wird untersucht, inwiefern Musikgeschmack in Zeiten zunehmender Brüchigkeit symbolischer Grenzziehungen als Mittel soziokultureller (Selbst)Verortung sowie als Ressource im Streben nach gesellschaftlicher Superiorität genutzt wird.
Als ergiebiges Datenmaterial für die Erforschung von Musikgeschmack in der Popularkultur erwiesen sich Diskussionen über musikalische Vorlieben und Aversionen in Online-Foren. Insgesamt wurden 30 Diskussionen mit über 3000 Einträgen untersucht. Die Dateninterpretation erfolgte sowohl mittels kategorienbasierter qualitativer Inhaltsanalyse als auch mit Methoden rekonstruktiver Sozialforschung. In methodologischer Hinsicht orientierte sich die Auswertung an der wissenssoziologischen Deutungsmusteranalyse.
Die empirischen Ergebnisse zeigen, wie MusikrezipientInnen ihren Geschmack zum Ausdruck bringen, symbolische Grenzen ziehen und soziale sowie kulturelle Positionierungen vornehmen. Hinsichtlich der Demonstration moralischer Überlegenheit lassen sich zwei Deutungsmuster explizieren, die als Grundlage für die Definition des „guten Geschmacks“ in der Popularkultur dienen: Die Zuschreibung von Authentizität bewirkt eine Grenzziehung zwischen „kommerzieller“ und „künstlerisch wertvoller“ Musik. Als „authentisch“ gilt jene Musik, von der angenommen wird, dass sie um der Musik willen und weitgehend jenseits ökonomischer Aspirationen produziert wird. Die Vorliebe für „authentische“ Musik ist die Basis eines Geschmacks, durch den Superiorität zum Ausdruck gebracht werden kann: Demonstriert wird moralische Überlegenheit durch die Aufwertung des eigenen Geschmacks vor dem Hintergrund der Diskreditierung jener Musik, der das Attribut „kommerziell“ verliehen wird.
Allerdings zeigt sich, dass Authentizität als Qualitätsauszeichnung populärer Musik zunehmend in Frage gestellt wird. Die empirischen Befunde legen nahe, dass die Authentizitätsrhetorik mit einem neuen Deutungsmuster in Konkurrenz tritt. „Toleranz“ avanciert zu einem Schlüsselkonzept musikalischen Geschmacks in der Popularkultur: Der darauf beruhende „Querbeet-Geschmack“ zeichnet sich nicht nur durch die demonstrative Überschreitung der Grenze zwischen „authentischer“ und „kommerzieller“ Musik aus, sondern auch durch eine Offenheit gegenüber verschiedenen musikalischen Welten. Abgrenzung findet gegenüber dem „festgefahrenen“ Geschmack jener MusikkonsumentInnen statt, die lediglich an einem Genre Gefallen finden. Nicht was gehört oder nicht gehört wird, sondern die Art und Weise, wie MusikrezipientInnen mit der Vielfalt unterschiedlicher Musiken umgehen, wird zum zentralen Kriterium symbolischer – und womöglich auch sozialer – Distinktion in der Popularkultur.