Abstract (deu)
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Der Umgang des österreichischen Fußballs mit seiner Geschichte ist symptomatisch für seine aktuelle Krise. Eine mythenüberfrachtete, anekdotenhafte und lückenhafte Historiographie durch Journalistengenerationen, die unter Patronanz des Österreichischen Fußballbundes ihre Rolle als „Historiker“ ungehindert spielen durften und dürfen, mußte fast zwingend zu zahlreichen Missverständnissen und Widersprüchen führen.
Österreichs 2:3-Niederlage in Neapel bei der Fußballweltmeisterschaft 1934 war ebenso wenig die „Geburtsstunde eines Deutschen-Komplexes“ wie das „Anschluss“-Spiel im April 1938 der „Beginn der Erzfeindschaft“. Die österreichisch-deutsche Fußballrivalität wurzelt in alten Konflikten, beim olympischen Fußballturnier 1912 in Stockholm, oder im Boykott des österreichischen Profifußballs durch den Deutschen Fußballbund in den späten 1920er Jahren. Die Ereignisse in Italien 1934 waren keine Antizipation der österreichischen Opferrolle von 1938. WM-Favorit Österreich scheiterte an Klubegoismen und Funktionärsarroganz, der unprofessionelle Auftritt war selbstverschuldet.
Die Kaffeehaus-Idylle der 1930er Jahre, der das „Wunderteam“ entwuchs, verschleiert das tragische Ende einer glorreichen Ära und die Schicksale seiner Hauptprotagonisten: Der Jude Hugo Meisl hatte Österreichs Fußball als Teamchef zur Weltspitze geführt, der nationalsozialistische ÖFB-Präsident Richard Eberstaller ihn 1938 liquidiert – zu einem Zeitpunkt, als der jüdische Wiener Verbandspräsident Josef Gerö bereits ins KZ nach Dachau deportiert war.
Mathias Sindelar war keine Gallionsfigur des Widerstandes. Seine bis heute kolportierten patriotischen Akte beim „Anschluss“-Spiel im Wiener Stadion am 3. April 1938 haben nicht stattgefunden. Die reichsdeutsche Auswahl trug im Wiener Praterstadion bereits den Dress des Gastgebers, Sindelar brauchte gar nicht auf „Rot-weiß-rot“ bestehen. Auch zu seinem Freudentanz vor der Nazi-Tribüne nach seinem Führungstor hatte er keine Gelegenheit: diesen hätte der Berliner Schiedsrichter mit Sicherheit unterbunden, und die gleichgeschalteten Zeitungen hätten darüber auch nicht berichtet. Dennoch wird das „Anschluss“-Spiel immer noch als Akt des österreichischen Widerstandes missverstanden.
Auch die Behauptung, Österreichs (Fußball)Sport seien 1938 die NS-Strukturen oktroyiert worden, ist widerlegt. Wiener Nazibonzen entpuppten sich als glühende Wiener Fußballpatrioten, während sich Wendehälse im ÖFB und Wiener Fußballverband dem NS-Terrorsystem andienten und nach 1945 als Pioniere des Nachkriegsfußballs auftraten.
Bis heute hält die Ursachenforschung über das unerwartete 1:6-Debakel gegen Deutschland bei der WM 1954 an. Die Mythen vom „Fritz-Walter“-Wetter in Basel, von den adidas-„Wunderschuhen“ der Deutschen, von ihrem Traubenzucker-„Doping“ sind langlebig. Für das „Unerklärliche“ musste Österreichs Provinzpresse eigens eine „Verschwörungstheorie“ konstruieren, um die wahren Ursachen – falsche Mannschaftsaufstellung, indisponierte Spieler, mentale Schwächen – zu verdrängen. Friedrich Torbergs Metapher von der „katastrophalsten Niederlage seit Königgrätz“ wurde aus dem zeitlich-medialen Kontext gerissen und eine Publizität zugeschrieben, die sie nicht besaß. „Fußball-Legende“ Ernst Happel, nach dem Debakel von Basel 1954 von den Medien aus Österreich hinausgeekelt, erfuhr durch ebendiese erst als todkranker österreichischer Teamchef eine fast kultische Verehrung.
„Cordoba“ 1978 ist zu einem „Verklärungsmythos“ verkümmert. Die Legende von der 47jährigen Sieglosigkeit der Österreicher gegen Deutschland ignoriert unbeirrt Tatsachen wie: das 2:0 gewonnene „Anschluss“-Spiel vom März 1938; sieben Jahre Nazi-Diktatur; langjährige Unterbrechungen des Spielverkehrs vor 1938 und nach 1945; und das Paradoxon, dass österreichische Kicker als Klubspieler gegen deutsche Vereine stets Erfolgserlebnisse, im Nationalteam dagegen angeblich einen „Deutschland-Komplex“ hatten.
„Gijon“ 1982 war nie ein Mythos, seine Akteure haben später die Schiebungsgerüchte bestätigt. Anders als glorifizierte (Stamford Bridge 1931) oder mystifizierte (Basel 1954) Niederlagen wurde dieses 0:1 im gemeinsamen, österreichisch-deutschen kollektiven Bewusstsein zu einem „Unentschieden“, das die Rivalität der beiden Fußballnachbarn beendete.