Abstract (deu)
Die strafrechtliche Praxis des letzten halben Jahrhunderts zeigte weltweit, dass die bis dahin praktizierte klassische Strafverfolgung oft nicht ausreichte, um die durch eine Straftat bewirkte Störung des ordre public in angemessener Weise auszugleichen. Die Staatsanwaltschaften suchten deshalb in Kooperation mit außergerichtlichen Einrichtungen vermehrt andere Formen der Konfliktlösung für jene Angelegenheiten, in denen weder die klassische Verfolgung noch das bedingungslose Absehen von der Verfolgung als geeignete Reaktion auf die begangene Straftat erachtet wurde.
Ausgehend von Nordamerika und Kanada entwickelten sich im Gefolge des zweiten Weltkriegs praktisch auf der ganzen Welt Ideen und Praktiken der Diversion, der Rechtsbereinigung und der Entkriminalisierung. Während manche dieser neuen Strömungen bloß die Effektivität der Gerichtsbarkeit im Hinblick auf die durch eine verstärkte Inanspruchnahme der Gerichte entstandene Justizkrise wieder herstellen sollten, machte sich immer mehr ein neuer Geist, eine grundlegend neue Betrachtungsweise der Reaktion auf Straftaten bemerkbar, die echte Alternativen zur klassischen Strafverfolgung herausarbeiten wollte. Bald handelte es sich nicht mehr bloß um marginale Experimente einzelner Staaten, sondern um ein Phänomen mit weltweiter Bedeutung.
Die Zulässigkeit dieser Alternativen zur klassischen Verfolgung war jedoch nicht immer unumstritten. Besonders aus verfassungsrechtlicher Sicht erhoben und erheben sich in vielen Ländern teilweise noch immer Bedenken gegen derartige Maßnahmen. Darf man im Bereich des Strafrechts überhaupt und wenn ja bis zu welchem Ausmaß und innerhalb welcher Grenzen Konsens und Vereinbarungen als Reaktionswege heranziehen? Stellt eine derartige „Ökonomisierung“ der Gerichtsbarkeit nicht ihre ganze Glaubwürdigkeit in Frage? Kann man ein ursprünglich zivilrechtliches Lösungsmodell einfach auf den Strafprozess umlegen? Auf viele dieser Fragen ist bis heute keine endgültige Antwort gefunden worden.
Trotz all dieser Bedenken lässt sich mittlerweile unzweifelhaft feststellen, dass die alternative Konfliktlösung in so gut wie allen Strafprozessordnungen Fuß gefasst hat. In relativ kurzer Zeit konnte man in den meisten industrialisierten Ländern einen bedeutenden Aufschwung neuer Reaktionsmöglichkeiten auf Straftaten beobachten.
Bei Betrachtung der französischen im Vergleich mit der österreichischen Rechtsordnung konnten zahlreiche Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten im Bereich der alternativen Konfliktlösung festgestellt werden. Ihre dennoch unterschiedliche Bedeutung und Anwendung resultiert eher aus einer unterschiedlichen Verankerung in der Praxis der Staatsanwaltschaft und der unterschiedlichen Befassung der Gerichte mit minderschweren Angelegenheiten als aus einem besseren oder erfolgreicheren Einsatz im Hinblick auf die Verwirklichung der angestrebten Strafrechtszwecke.
Zusammenfassend scheint es, dass sich – in Frankreich wie in Österreich – tatsächlich ein neuer Geist durchgesetzt hat, der eine konstruktive Lösung der unvermeidbaren menschlichen Konflikte in Aussicht stellt. Der Weg geht in beiden Rechtsordnungen hin zu einer dezentralisierten und versöhnenden Justiz, die menschlich entscheidet und besser als die klassische Verfolgung dazu geeignet ist, die zwischen Menschen zwingend entstehenden Konflikte umfassend und nicht bloß in juristischer Hinsicht zu lösen. Vielleicht wird es so möglich sein, eine auf die Zukunft hin arbeitende Justiz zu verwirklichen, die Kooperation und Solidarität zwischen allen Beteiligten erleichtert.