Abstract (deu)
Die Nibelungenliedhandschrift d des Ambraser Heldenbuchs, Codex Vindobonensis, Series nova 2663, bietet 2005 Strophen, ist aber unvollständig, da einige Seiten frei gelassen wurden, offenbar in der Absicht, den aus der Vorlage nicht reproduzierbaren Text später nachzutragen. Neben der diplomatischen Transkription der Handschrift war es Ziel dieser Arbeit, die Entstehung dieser Nibelungenliedversion zu untersuchen.
Die Handschrift wird dem Mischkomplex *J/*d zugeordnet, der sich durch seine Orientierung am *B-Text des Nibelungenliedes, aber durch die Aufnahme von Zusatzstrophen aus einer *C-Version auszeichnet. In Handschrift d finden sich neben der Eingangsstrophe C1 auch 22 Zusatzstrophen aus der *C-Fassung, wobei eine doppelt abgeschrieben wurde und insgesamt sieben Strophen eine andere Stelle als in *C einnehmen. Über das Zustandekommen dieser Mischfassungen wurden einige Theorien entwickelt, wobei sich in diesem Teilaspekt der Nibelungenliedforschung die Theorie der sekundären Mischung von Karl Bartsch gegenüber der Theorie Wilhelm Braunes, wonach die *C-Version des Nibelungenliedes aus einer *d-Version über eine *J-Version entstanden sei, in der Forschung durchgesetzt hat. Da Handschrift d nur etwa ein Drittel der Mehrstrophen aus der *C-Fassung besitzt, stellt sich die Frage, ob dem Bearbeiter ein *C-Exemplar vorlag, das nicht mehr Zusätze besaß, oder ob er nach bestimmten Kriterien auswählte. Die vorliegende Untersuchung konnte – auch im Vergleich mit den anderen Vertretern der Mischgruppe J und H - zeigen, dass eine bewusste Auswahl der Strophenzusätze nicht plausibel erscheint, da es zum Ersten in der Umgebung, in der diese Plusstrophen stehen, zu Unstimmigkeiten im Kontext kommt, die die *C-Fassung bereinigt hat. Zum Zweiten tauchen diese Zusätze teilweise an falscher Position im Text auf, was den Rückschluss zulässt, dass sie zuerst am Rand nachgetragen waren und in einer späteren Abschrift durch missverständliche Einweisung an die falsche Stelle gelangten. Eine Bestätigung konnte in der Tatsache gefunden werden, dass die Plusstrophen keine eindeutige inhaltliche Tendenz aufweisen, die auf eine bewusste Auswahl schließen ließe. Die Zusatzstrophen wurden also nicht sorgfältig nach einem Kriterium ausgewählt, sondern planlos am Rand eines Textes der *B-Fassung ergänzt, in der Absicht, ein möglichst ‚vollständiges’ Exemplar zu haben. Das *C-Exemplar des Bearbeiters besaß offensichtlich nicht mehr Zusatzstrophen.
In einem zweiten Schritt wurde dem Verhältnis von d zu dem Nibelungenliedfragment O nachgegangen, das seit seiner Entdeckung durch Friedrich von der Hagen als Vorlage für Handschrift d angesehen wird. Nibelungenlied d zeichnet sich durch eine fast wortwörtliche Übereinstimmung zu O aus, es finden sich aber einige Diskrepanzen, die eine definitive Aussage nicht zu lassen. Die enge Verwandtschaft von d zu O ist offensichtlich. Ob es sich bei beiden Handschriften aber um Mutter-Tochter-Handschriften handelt, ist nicht eindeutig festzustellen, da von O zu wenig Material vorhanden ist. Durch einen Vergleich der Lesarten in d mit den übrigen Vertretern des Mischkomplexes *J/*d – HJO - konnten einige Gemeinsamkeiten ermittelt werden, die sich schon in der Stammhandschrift der Gruppe befunden haben müssen. Weiters konnte gezeigt werden, dass die Bezeichnung ‚Heldenbuch an der Etsch’ für das Fragment O auf einer Missdeutung des Auftrages Kaiser Maximilians beruht, der anordnete, das Heldenbuch an der Etsch ausschreiben zu lassen. ‚An der Etsch’ meint aber nicht den Namen des Heldenbuches, sondern den Ort, wo diese Abschrift erfolgen sollte und wohin der Schreiber entsendet werden sollte.
Um die Entstehung der Handschrift d zu verdeutlichen, wurde weiters die Arbeitsmethode Hans Rieds untersucht, wobei gezeigt werden konnte, dass Ried sich zwar getreu seinem Auftrag, ein Heldenbuch auszuschreiben, an die Vorlage hielt, ihm aber doch Fehler bei der Abschrift unterlaufen sind. Deutlich wurde, dass er keine Kenntnis des Mittelhochdeutschen und des Versbaus besaß. Unterschieden wurden hier bewusste und unbewusste Änderungen. Unter erstere fallen die Modernisierungen durch Ried im Sinne des frühneuhochdeutschen Sprachgebrauchs, die der Zeitabstand zur Vorlage von mehr als 200 Jahren mit sich brachte. Durch diese sprachlichen Änderungen wurde des Öfteren das Metrum verletzt. Weiters änderte Ried stellenweise sinnwidrig, wo ihm das Verständnis der Vorlage schwer fiel. An unbewussten Änderungen wurden Verlesungen, Fehler durch Abschweifen der Augen, wodurch es zu Auslassungen einzelner Wörter, aber auch Halbverse kam, und Wortumstellungen herausgearbeitet, die in der Arbeitsweise Rieds, Halbzeilen zu lesen und dann aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, begründet sind. Im Allgemeinen konnte festgestellt werden, dass der Schreiber stellenweise mit seiner Aufgabe überfordert war und wenig in den Sinn des Textes eingedrungen ist, jedoch nicht interpretierend in den Text eingegriffen hat. Durch seine Leistung als Kopist ist uns aber doch eine gute Abschrift des Nibelungenliedes überliefert.