Abstract (deu)
Gegenstand der Arbeit ist das Simultandolmetschmodell des russischen Dolmetschwissenschafters A. F. Schirjajew, das in seiner im Jahr 1979 veröffentlichten und nur in russischer Sprache vorliegenden Monographie dargestellt wird. Die Entwicklung der professionellen Dolmetschtätigkeit seit den Pariser Friedensgesprächen von 1919 bis zum Erscheinen der Monographie sowohl auf internationaler Ebene als auch in der Sowjetunion bildet den praktischen Hintergrund für Schirjajews Arbeit. Beeinflusst von der in der Sowjetischen Schule eine bedeutende Rolle spielenden Psycholinguistik erachtet Schirjajew den gleichzeitigen Ablauf von mehreren kognitiven Verarbeitungsprozessen als die größte Herausforderung beim Dolmetschen und untersucht die Mechanismen, die dies ermöglichen. Dazu führt er Experimente mit Studierenden und Berufsdolmetschern zu temporalen Aspekten wie Segmentierung und Phasenverschiebung, Nutzung von Pausen und Einfluss der Präsentationsgeschwindigkeit auf die Darbietung des Dolmetschers durch. Für sein Prozessmodell, das dafür gedacht war, die Lehre des Simultandolmetschens auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen und dementsprechend leicht verständlich und nachvollziehbar sein sollte, unterteilt er einen Dolmetschabschnitt in eine Orientierungsphase, Entscheidungsphase und Umsetzungsphase. Abhängig vom Tempo des Redners in der Ausgangssprache können diese Phasen in unterschiedlichem Ausmaß überlappen. Um die erst in ihren Anfängen stehende internationale Forschungstätigkeit zu Schirjajews Zeit näher zu beleuchten, werden ausgewählte bahnbrechende Untersuchungen zu temporalen Aspekten wie z.B. von Gerver und Goldman-Eisler sowie die ersten Prozessmodelle von Gerver und Chernov beschrieben und Schirjajews Ansätze und sein Modell dazu in Beziehung gesetzt. Spätere maßgebliche Modelle der kognitiven Informationsverarbeitung wie z.B. von Gile und Setton und Settons kritische Feststellungen über die Schwierigkeit der wissenschaftlichen Erforschung und Darstellung des Simultandolmetschens verdeutlichen die Komplexität dieser noch jungen wissenschaftlichen Disziplin.