Abstract (deu)
Die vorliegende Dissertation befaßt sich mit den Wahlen zum konstituierenden Reichstag in Österreich im Juni 1848 im Vergleich mit jenen zur konstituierenden Nationalversammlung in Frankreich im April desselben Jahres, und zwar unter dem besonderen Blickwinkel ihrer Rolle für die Verbreitung neuer – insbesondere elektoraler und repräsentativer – Politikvorstellungen und Praktiken im ländlichen Raum. Dem Ansatz zugrunde liegen einige der Begrifflichkeiten der in Frankreich seit Jahrzehnten geführten Debatte um die „Politisierung“ (politisation) der Landbevölkerung. Um eine quellennahe und detaillierte Darstellung zu ermöglichen, wurden als Untersuchungsgebiete das Land Niederösterreich (ohne Wien) sowie das Umland von Paris, das ehemalige Département Seine-et-Oise, gewählt.
Nach einer Darstellung theoretischer und methodischer Ausgangspositionen zur Anwendung des international vergleichenden Ansatzes in der Geschichtswissenschaft folgt eine kurze Wiedergabe der Debatten um die „Politisierung“ einschließlich neuerer Kritiken an diesem Konzept (Kapitel 2). Als Ergebnis hieraus wird der Ansatz für die vorliegende Dissertation formuliert, nicht von einer „Politisierung“ gegenüber einem „apolitischen“ Ausgangszustand der ländlichen Bevölkerungen auszugehen, sondern vielmehr von einem komplexen Bündel differenziert zu analysierender Wandlungen ländlicher Politik. Für die Untersuchung dieser einzelnen Aspekte erweisen sich jedoch viele der in diesen Debatten vorgezeigten Ansätze und Fragestellungen als potentiell nützlich.
In einem ersten Teil der Untersuchung erfolgt eine komparative Darstellung der demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der beiden Untersuchungsräume in ihrer Entwicklung während der Jahrzehnte vor 1848 (Kapitel 3), weiters der kulturellen und mentalen Voraussetzungen der ländlichen Bevölkerungen im Hinblick auf Mobilität und Kommunikation, auf Alphabetisierung und Mediennutzung, auf religiöses Verhalten sowie auf Erfahrungen mit politischer Partizipation und Interessenartikulation allgemein und mit Wahlen im besonderen (Kapitel 4). Diese Ausführungen dienen sowohl einer Kontextualisierung der Wahlen von 1848 als auch der Abklärung, inwieweit die beiden Fälle vergleichbar sind.
Es folgt eine knappe Darstellung der Revolutionen von 1848 in den beiden Gebieten unter besonderer Beachtung ihrer Erscheinungsformen im ländlichen Raum (Kapitel 5). Daß Politik auch in den Dörfern in diesem Jahr revolutionäre Politik war oder zumindest sein konnte, ist zu einer Einordnung der Wahlen essentiell.
Ausführlicher verglichen werden die Rechtsgrundlagen der beiden Wahlen, die Vorgänge der administrativen Vorbereitung sowie der Wahlinformation und Wahlwerbung (Kapitel 6). In ihnen werden Modelle elektoraler Politik gesehen, die von neuen und alten politischen Eliten in beiden Staaten angesichts der revolutionären Situation aus zu bestimmenden Intentionen entworfen und mit den ihnen verfügbaren Kommunikations- und Machtmitteln an die Bevölkerungen herangetragen wurden.
Der eigentliche Wahlvorgang wird zunächst in seiner prozeduralen Dimension eingehend geschildert, bevor eine Analyse der Wahlentscheidungen versucht wird (Kapitel 7). Auf diesem Wege wird sichtbar gemacht, daß unterschiedliche Vorstellungen über Sinn und Funktionsweise von Wahlen konkurrierten, sich aber auch miteinander vermischten. Dies betrifft nicht nur die Divergenzen zwischen den in Kapitel 6 analysierten Modellen der Eliten, sondern auch deren Aufeinandertreffen mit in der breiteren Bevölkerung vorhandenen Vorstellungen, die von ihnen teils essentiell abwichen. Dies ist in Niederösterreich, dessen ländliche Wähler das vorgegebene Wahlmodell ausgehend von älteren Vorstellungen und Praktiken der Interessenartikulation, die auf ständischer Gliederung der Gesellschaft und auf Delegation mit gebundenem Mandat beruhten, teils verweigerten, häufiger aber umdeuteten und umfunktionierten, gut zu beobachten; in Seine-et-Oise sind Verhaltensweisen, die für abweichende Vorstellungen von Repräsentation und Wahlen sprechen, in marginalem Ausmaß neben einer viel weitergehenden Akzeptanz des von den Eliten vorgegebenen Modells zu finden.
Obwohl die Unterschiede zwischen den untersuchten Fällen beträchtlich sind und beide vom heute etablierten Idealbild demokratischer Wahlen beträchtlich abweichen, lassen sie sich in die Geschichte vielfältiger Veränderungen einordnen, in deren Verlauf ältere Vorstellungen vom Wählen im besonderen, von Politik im allgemeinen allmählich durch Elemente heute bekannter Modelle verdrängt wurden.