Abstract (deu)
Ernst Jandl ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Verständnis von Sprache und sein radikal neuer Umgang damit finden sich sowohl in seinem Werk als auch in seinem poetologischen Programm. Die Gedichte, die er in einer 40jährigen fast ununterbrochenen Schaffensperiode schrieb, sind sehr vielfältig.
Der Nachlass des Autors befindet sich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Die Fragen, die in dieser Diplomarbeit beantwortet werden sollen, sind, ob und wie sich Jandls Vielfalt und poetologisches Programm im Arbeitsprozess finden lassen und welche Edition für das Material sinnvoll ist. Zu diesem Zweck werden die Gedichtkonvolute ein gleiches / ÜBE!, 183 fahnen für rottweil, die bearbeitung der mütze, gegen abend und stanzen untersucht. Diese Gedichte wurden ausgewählt, da sie einen Querschnitt durch Jandls Werkphasen erlauben. Sie verweisen auf die Werkkategorien Lautgedichte, Sprechgedichte, Gedichte in heruntergekommener Sprache, Gedichte in nahezu Alltagssprache und die späte Mundartlyrik. Die theoretische Schule der critique génétique, die Literatur und Schreiben als Prozess begreift, eignet sich für diese Fragestellungen besser als die in der Editionsphilologie übliche Fixierung auf den ‘richtigen’ und endgültigen Text.
Das untersuchte Material zeigt verschiedene Schreibmethoden und –strategien. Um diese zu veranschaulichen, befinden sich im Anhang Faksimiles aus dem Nachlass Ernst Jandls. Obwohl die Gedichte sehr unterschiedlich sind und über einen langen Zeitraum hinweg geschrieben wurden, kommt Jandl immer wieder auf dieselben Methoden zurück. Alle Konvolute sind von der intensiven Reflexion und Bearbeitung von Sprache, Sprachpartikeln, Struktur und Form geprägt.
Das vielschichtige Material und die Analyse des Schreibens als Prozess erlauben und fordern neue Wege der Rezeption, Interpretation und Edition. Es zeigt sich eine Unmenge von Schreibspuren und –pfaden, die der Autor beschritt, verließ und zu denen er wieder zurückkehrte. Daraus ergeben sich neue Verweise und Bedeutungshorizonte. Folglich ist eine kommentierende Edition, die den Prinzipien der critique génétique folgt, sinnvoll, wenn nicht gar notwendig, um diese neuen Fragestellungen zu beantworten und tiefgehende Interpretationen zu ermöglichen.