Abstract (deu)
Die Arbeit befasst sich mit zeitgenössischen Neuinterpretationen von Mythen des klassischen Altertums. Der Hauptaugenmerk liegt dabei auf drei Romanen anglophoner Schriftstellerinnen, welche in einer 2005 gestarteten Serie des schottischen Verlags Canongate unter dem Serientitel Myths erschienen sind: Margaret Atwoods The Penelopiad, Jeanette Wintersons Weight und Ali Smiths Girl Meets Boy.
Ausgehend von der Feststellung, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts weder die Mythen noch die Idee solcher Neuinterpretationen oder re-tellings etwas Neues sind, stellt sich die Frage, welchen Nutzen die Romane sich selbst, und Geschichten im Allgemeinen, zuschreiben, und wie sie sich angesichts ihrer fehlenden Originalität rechtfertigen. Es ist das Ziel der Arbeit, zu untersuchen ob in dieser Hinsicht überhaupt eine einheitliche Aussage getroffen werden kann, und wenn ja, welche dies ist.
Zwei unterschiedliche Konzeptionen von Neuinterpretationen dienen dabei als Ausgangspunkte für Vergleiche: einerseits das Konzept der revision, worunter Neuinterpretationen mit einer klaren politischen Zuordnung, zum Beispiel zum Feminismus, und der Ambition mithilfe der künstlerischen Tätigkeit gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, zu verstehen sind; andererseits das Konzept der historiographical metafiction, worunter nach Linda Hutcheon jene typisch postmodernen Werke zu verstehen sind, welche nicht nur stark selbstreflexiv geprägt sind, sondern auch auf vielen Ebenen paradoxe und widersprüchliche Bedeutungen tragen, und denen zwar ein Potential zur kritischen Stellungnahme zu politischen und gesellschaftlichen Themen zugeschrieben wird, die jedoch den selben kritischen Blick auch auf die Ideologien anwenden, welche hinter politischen Bewegungen wie dem Feminismus stehen.
In der Analyse werden sowohl das intertextuelle Verhältnis zwischen dem Mythos, welcher den Quelltext darstellt, und der Neuinterpretation, als auch die metafiktionale Selbstreflexion der Werke und ihre Behandlung des Themas Geschichtenerzählen untersucht, um die kritische – und möglicherweise ideologisch geprägte – Auseinandersetzung der Werke mit politischen und gesellschaftlichen Themen – vor allem, aber nicht nur, im Bereich der Genderpolitik – mit metafiktionalen Überlegungen zu den Möglichkeiten des Geschichtenerzählens in Verbindung zu bringen.
Wie die Analysen zeigen, ist es, trotz beträchtlicher Unterschiede zwischen den einzelnen Texten, möglich, eine gemeinsame Grundtendenz zu finden. In allen drei Texten spielt der Gegensatz zwischen authoritären, festgesetzten, und demnach oppressiven Bedeutungen – welche mehr oder weniger stark mit den kanonisierten Mythen in Verbindung gebracht werden – und einem pluralistischen, flexiblen und subversiven Begriff von Bedeutung – welcher in allen Fällen mit dem Erzählen, und vor allem Wiedererzählen von Geschichten in Verbindung gebracht wird. Während alle drei Werke die Ideologie der re-vision zu reflektieren scheinen, und die Möglichkeit des Geschichtenerzählens für politische Zwecke und zur Erwirkung gesellschaftlicher Veränderungen in Erwägung ziehen, nehmen sie dennoch eine Position der kritschen Distanz gegenüber jener Ideologie ein, und sprechen dem Geschichtenerzählen – und vor allem dem re-telling – unterschiedlichen Bedeutungen und Fähigkeiten zu. Zum einen wird es als eine Möglichkeit zur Dekonstruktion dominanter Narrative und festgefahrener Bedeutungen gesehen, zum anderen aber auch als ein Weg, individuelle Narrative – und damit Identitäten wie auch Zukunftsvisionen – zu konstruieren. Letztendlich bleibt allen drei Romanen eine Gemeinsamkeit, nämlich das paradoxe, und wohl auch bewussterweise nie ganz realisierbare Ideal der Pluralität, Flexibilität und Differenz.