Abstract (deu)
Ibn Taymīya (gest. 1328 A. D.) hat eine Sichtweise von den awliyā’ „Heiligen“ (Sg. walī) propagiert, die die Heiligen systematisch als Schnittstelle seiner eigenen Überzeugungen definiert. Nachdem die awliyā’ qur’ānisch als die Gläubigen schlechthin charakterisiert werden, überrascht nicht, dass Ibn Taymīyas Überlegungen zu den awliyā’ einer grossen Reflexion zum Thema „Glauben“ entsprechen. (Auch) die von Ibn Taymīya hervorgebrachte Sichtweise von den Heiligen vermag daran zu erinnern, dass es problematisch ist, ʿulamā’ „Rechtsgelehrte“ (Sg. ʿālim) und awliyā’ „Heilige“ ohne nähere Präzisierung als Gegensätze zu begreifen. Ist es korrekt zu konstatieren, dass als awliyā’ bezeichnete religiöse Akteure und als ʿulamā’ bezeichnete religiöse Akteure (historisch) oftmals in einem Konkurrenzverhältnis zueinander standen, so impliziert dies nicht, dass ʿulamā’ die Existenz von Heiligen zurückwiesen. Vielmehr ist es sinnvoll, davon auszugehen, dass ʿulamā’ den Versuch unternommen haben werden, den qur’ānischen Begriff walī „Heiliger“ so zu definieren, dass die awliyā’ ihre eigenen Werte und die Gültigkeit ihres eigenen religiösen Kapitals – ihre Überzeugungen kurzum – verkörperten. Dies ist eine Erinnerung daran, dass walī keinesfalls als ein eindeutiger Begriff zu erachten ist, sondern dass vielmehr umstritten war, wer oder was unter einem walī zu verstehen ist. Eine Aufmerksamkeit für diese Auseinandersetzungen ist entscheidend, da sie erlaubt, solche (theoretischen) Konstrukte von Heiligkeit, wie Ibn Taymīya sie hervorgebracht hat, als objektiv strategisch zu erkennen, d. h. als seinen eigenen Überzeugungen günstig (was keinesfalls gleichbedeutend damit ist, hier Zynismus am Werk zu sehen). Der hier unternommene Versuch, Anteile von Ibn Taymīyas Konstrukt von den awliyā’ „Heiligen“ näher zu analysieren, vermag die grosse Konsequenz ans Tageslicht zu befördern, mit der er daran gearbeitet hat, in die Vorstellung „Heilige“ seine tiefsten Überzeugungen hineinzutragen. Für Ibn Taymīya gab es keinen muslimischen Glauben unabhängig von der Offenbarung, deren Adressat der Prophet Muḥammad war, und für ihn war die von dieser Offenbarung etablierte Glaubensordnung verbindlich, da das Resultat des legislativen (dīnī) Willen Gottes. Konsequent hat er dem Gehorsam den göttlichen Ge- und Verboten gegenüber eine herausragende Bedeutung eingeräumt, und er hat mehrere argumentative Strategien verfolgt, um die Verbindlichkeit dieser Glaubensordnung für alle Gläubigen zu untermauern. Eine nachdrückliche Bestätigung der grossen Bedeutung des Gehorsams bei Ibn Taymīya bietet seine Sichtweise von religiöser Virtuosität, die er bei denen verortet, die selbstbestimmte Manöver in dem, was mubāḥ „erlaubt“ ist, zurückstellen. Nachdrücklich zu betonen ist, dass Ibn Taymīyas religiöse Konstrukte auch insofern anspruchsvoll sind, als sie auf die Bedeutung des Herzens zielen und den Glauben definieren als äusserste Liebe (zu Gott), die zugleich äusserste Demut ist, d. h., seine religiösen Konstrukte teilen die Aversion der religiösen Avantgarden gegen Augendienerei. Wenn Ibn Taymīya äusseren religiösen Werken eine grosse Bedeutung einräumt, dann niemals unabhängig von der Forderung nach dem „Tun des Herzens“, aus dem sie für ihn notwendig hervorgehen. Ibn Taymīyas religiöse Konstrukte transportieren zudem eine bestimmte Vorstellung eines (idealen) muslimischen Gemeinwesens, in dessen Zentrum die Überlegung steht, dass alle Menschen wesensmässig „arm“ (faqīr) und „bedürftig“ (muḥtāǧ) sind. Eine Erkenntnis dieser „Armut“ und ein ihr entsprechendes Handeln – ʿibāda „Dienst an Gott allein“ – entspricht für Ibn Taymīya dabei einer Ökonomie heilbringender Akte, in welcher der Dienst an Gott allein sogleich individuelles wie kollektives sowie dies-wie jenseitiges Heil in Gang setzt. Ibn Taymīyas Sicht von den Heiligen ist ausnehmend kritisch im Hinblick auf eine Reihe von Praktiken und Glaubensüberzeugungen, die mit dem Heiligenkult zusammenhängen, wobei für alle von ihm kritisierten Phänomene gilt, dass sie für ihn in der einen oder anderen Form seiner fordernden Sicht von dem, worin die Religion in Wahrheit besteht, nicht zu genügen vermögen.