Abstract (deu)
Arbeitszeiten sind ein politisch viel diskutiertes Thema. Immer wieder kämpfen Interessensvertretungen um die Verlängerung oder Verkürzung von Arbeitszeiten von Angestellten und ArbeiterInnen. Die Arbeitszeiten von Solo- und Mikroselbstständigen hingegen unterliegen anderen Mechanismen. Sie können nicht von großen Interessensvertretungen ausgehandelt werden, sondern müssen von den einzelnen Selbstständigen für sich selbst festgelegt werden.
Das Verfügen über ein unterschiedlich hohes Ausmaß an Zeit hat starke Auswirkungen auf die Stellung der Individuen in der Gesellschaft. Mit der Analyse der Arbeitszeiten Selbstständiger und mit der theoriegeleiteten Interpretation der empirischen Ergebnisse konnte gezeigt werden, dass die Anwendung der Bourdieuschen Theorie hilfreich für die Beschreibung und Erklärung des Phänomens unterschiedlich langer Arbeitszeiten Selbstständiger und das Phänomen der unterschiedlichen Bewertung der Arbeitszeiten ist.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu untersuchen, wie die Konzepte des Habitus, des sozialen Feldes und der Kapitalarten von Pierre Bourdieu auf die Dimension der Zeit angewandt werden können, und mit Hilfe dieser theoretischen Konzepte eine Analyse der Arbeitszeiten von und deren Bewertung durch Solo- und Mikroselbstständige durchzuführen.
Die Analyse des Ausmaßes an Zeit-Kapital, über das die einzelnen Selbstständigen verfügen, zeigte große Ungleichheiten, die in erster Linie mit Betreuungspflichten in Verbindung stehen.
Das Bourdieusche Diktum einer Wechselwirkung zwischen Struktur und Individuum beleuchtet die Bedeutung der Bewertung von Sachverhalten durch die Individuen. In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Zeit würde eine Analyse der Bewertung von Arbeitszeit, die für beruflichen Erfolg, aber auch für eine gute Lebensführung als notwendig erachtet wird – also einem Arbeitszeit-Geschmack –, durchgeführt. Diese Analyse zeigte, ähnlich wie in Bourdieus Studien, einen engen Zusammenhang des Geschmacks mit dem Ausmaß an Kapital, über das die Personen verfügen. Darüber hinaus konnte in der Analyse jedoch bei einer Gruppe von Personen mit hohem Zeitkapital auch eine Form der Bewertung von Arbeitszeit gefunden werden, die (entsprechend ihrem hohen Zeitkapital) lange Arbeitszeiten zwar als notwendig für beruflichen Erfolg erachten, die lange Arbeitszeiten aber auf der Bewertungsebene des guten Lebens als negativ bewerten.
Der Habitus der Personen schließlich wirkt mit seiner Doppelfunktion gleichzeitig als Bewertungs- und als Erzeugungsprinzip der Praxis. Für die Habitusanalyse wurde daher die Wechselwirkung zwischen dem Ausmaß an Zeit-Kapital, der Bewertung der Arbeitszeit und dem Ausmaß der Arbeitszeit analysiert. Mit der Darstellung der drei verschiedenen, auf die Arbeitszeit bezogenen Habitusformen kann die von Bourdieu postulierte und in anderen Lebensbereichen empirisch analysierte Wirkung des Habitus als Bewertungs- und Erzeugungsprinzip der Praxis nachvollzogen werden.
Die Analyse zeigt darüber hinausgehend, dass nicht eindeutig festgestellt werden kann, wie viel Zeit für beruflichen Erfolg aufgewandt werden muss. Vielmehr scheint die Bewertung eines notwendigen und erstrebenswerten Ausmaßes an Arbeitszeit in engem Zusammenhang mit dem Ausmaß an Zeit, über das die Individuen verfügen, aber auch mit individuellen Wertsystemen zu stehen.