Abstract (deu)
Wie keine zweite theoretische Auseinandersetzung mit dem Judenhass hält die von Jean-Paul Sartre formulierte Kritik des Antisemitismus fest, dass es sich bei diesem um eine vom Wesen
und Verhalten der als Juden identifizierten Individuen unabhängige, frei und in vollem Bewusstsein getroffene Entscheidung für eine Leidenschaft und Weltanschauung handelt. Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gesetzt, Sartres zunächst 1938 in der Erzählung "Die
Kindheit eines Chefs" antizipierte und schließlich im Ende 1944 kurz nach der Befreiung von
Paris verfassten Essay "Überlegungen zur Judenfrage" systematisch ausformulierte Kritik des Antisemitismus in ihren Einzelheiten nachzuzeichnen und sowohl ihre philosophischen
Voraussetzungen – zuvorderst die Idee der bedingungslosen Freiheit des Einzelnen, den Begriff der Situation, verstanden als durch äußere Widrigkeiten, aber vor allem durch die
Freiheit der Anderen geschaffene Grenze seiner Freiheit, sowie den Begriff der Authentizität, die Sartre in seinen Kriegstagebüchern und vor allem in seinem philosophischen
Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" entwickelt hat, als auch den historisch-biographischen Hintergrund von Sartres jüdischem Engagement – die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und die Entdeckung der Besonderheit der Situation des Juden – offen zu legen. Weiters wird auf die Bedeutung von Sartres Überlegungen für zwei jüdische Intellektuelle, Jean Améry und
Claude Lanzmann, sowie auf die Konsequenzen, die beide jeweils für ihr Selbstverständnis und ihre politische Praxis daraus zogen, eingegangen. Abschließend wird Sartres Antisemitismuskritik zu Max Horkheimers und Theodor W. Adornos als Teil der "Dialektik
der Aufklärung" verfassten "Elementen des Antisemitismus", denen Sartres Überlegungen vielfach nahe stehen, von denen sie aber in entscheidenden Punkten abweichen, in Beziehung
gesetzt.
Dass Sartre, ausgehend von der vorgesellschaftlichen Conditio des Individuums als frei und von der Freiheit der Anderen potentiell in seiner leiblichen Existenz bedroht, gerade vor dem
Hintergrund der Abwesenheit eines kritischen Begriffes von den Formen gesellschaftlicher Synthesis den Charakter des Antisemitismus so scharfsinnig erkannt und kritisiert hat – und
damit vielfach über die auf eine umfassendere Gesellschaftskritik zielenden Überlegungen von Horkheimer und Adorno hinausweist – ist der zentrale Gedanke, von der diese Arbeit geleitet ist und der durch sie entfaltet und erhärtet werden soll.