Abstract (deu)
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, inwiefern Theater und Identität in einem Zusammenhang gebracht werden können. Am Beispiel ausgewählter Theatertexte Thomas Bernhards (Die Macht der Gewohnheit, Minetti, Vor dem Ruhestand, Heldenplatz sowie die Dramolette A Doda, Freispruch und Der deutsche Mittagstisch) wird aufgezeigt, dass sowohl auf einer individuellen Ebene für den Darsteller als auch auf einer kollektiven Ebene für die Rezipienten oder auch eine ganze Gesellschaft durch Theater ein Identifikationspotenzial, das den grundlegenden Annahmen interdisziplinärer Modelle, wie etwa dem psychoanalytischen von Erik Erikson oder auch den soziologischen von Erving Goffman und George Mead entspricht, entstehen kann, das sowohl Identitätsfragen und in weiterer Folge -krisen zu verursachen als auch zu deren Bewältigung beizutragen vermag.
Im Zentrum steht dabei die Annahme, dass die als transitorisch gekennzeichneten Prozesse, die während einer Rezeption zwischen dem Darsteller und dem Publikum, aber auch im Erarbeitungsprozess eines Stückes zwischen der Intention des Autors und deren Erfassung durch den Darsteller passieren, auf vielfältigen und komplexen Ebenen stattfinden und dass den Theatertexten Thomas Bernhards eine Qualität und eine Gesamtidee innewohnt, die es ermöglicht, an ihnen die Ebene der Identifikation und der Veränderung des Selbstbildes durch die Rezeption und die Arbeit mit seinen Texten aufzuzeigen.
In Bezug auf die Funktion des Theaters als Identitätsstifter wird in der Analyse bezüglich des Selbstbildes sowohl eines Individuum als auch eines Kollektivs zunächst zwischen textinhärenten, dramaturgisch-stilistischen Mitteln, die identifikatorisches Potenzial aufweisen, und gesellschaftlich-kontextualisierten Faktoren und der Bedeutung der Individualität des Einzelnen als äußere Faktoren differenziert.
Auf Basis dieser Analyse lässt sich eindeutig zeigen, dass Theater das Potenzial zur Identitätsstiftung, im Sinne eines Fremdbildes, das auf das Selbstbild des Einzelnen oder auch einer Gruppe trifft, hat, dass dabei aber eine Komplexität an Einflussfaktoren aufeinandertrifft, die nicht in ihrer gesamten Tragweite kognitiv-wissenschaftlich erfassbar ist.
Thomas Bernhard weist darüber hinaus besonders spezifische Stilmittel, wie etwa Übertreibung und Irritation, aber auch die Konstruktion konkreter Figuren-beziehungen auf, mit deren Hilfe er seine oftmals stark formulierte Kritik vermittelt, was ihn zu einem besonders interessanten Autor in Bezug auf Identitätsfragen macht – nicht zuletzt aufgrund seiner langfristigen und offensichtlichen Kritik am Selbstbild einer ganzen Generation nach dem Nationalsozialismus und ihrer Rolle dabei.
Die Arbeit bietet somit, neben der Etablierung eines theaterwissenschaftlichen Identitätsbegriffes, eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Kunst- und Künstlerverständnis Thomas Bernhards und dessen Vermittlung sowie mit der durch ihn geübten Kritik und dessen Rezeption, die durch diese neue Perspektive, das Fragen nach dem identifikatorischen Potenzial, einen neuen Zugang erfahren soll.