Abstract (deu)
Mit der Öffnung der Archivbestände für das Pontifikat Pius’ XI. (1922-1939) im Vatika-nischen Geheimarchiv stehen der historischen Forschung eine Fülle bedeutender, bisher unbearbeiteter Quellen zur Verfügung. Dieser „historiographische Glücksfall“ bot Anlass, das Verhältnis des österreichischen Bundeskanzlers und katholischen Priesters Ignaz Sei-pel zur römischen Kirchenzentrale einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Denn die bisherige, vorwiegend auf nationalen Quellen beruhende Forschung ließ diesen Aspekt weitgehend unbeachtet und konnte nur mutmaßen, inwieweit der christlichsoziale Bun-deskanzler sein politisches Handeln mit kirchlichen Stellen abgestimmt hatte. Die Unter-suchung der Wiener Nuntiaturberichte zeigt nun, dass die Kontakte Seipels nach Rom viel intensiver waren, als es die österreichischen Akten vermuten ließen. Die römischen Dokumente lassen den Prälaten als autoritätsbezogen und papstorientiert erscheinen, der den Kontakt mit den römischen Behörden häufig von sich aus suchte. Die Kommunikati-on zwischen Ignaz Seipel und der Kurie verlief dabei fast ausschließlich über die päpstli-che Vertretung in Wien, wo Seipel in Nuntius Enrico Sibilia einen loyalen Gesinnungs-genossen gefunden hatte, dem sich der Kanzler auch in privaten Angelegenheiten anver-trauen konnte. Umgekehrt hatte aber auch die kirchliche Hierarchie den praktischen Nut-zen eines begabten Priesters in dieser hohen Position erkannt und für eigene Zwecke ein-zusetzen gewusst. Die Bandbreite der an Seipel herangetragenen Interventionen reichte von banalen bürokratischen Anfragen bis hin zur Beeinflussung personeller Entscheidun-gen. Grundsätzlich gestalteten sich die vatikanischen Einflussnahmen aber sehr behutsam und in überschaubarem Ausmaß. Inhaltliche Direktiven von nennenswerter innenpoliti-scher Relevanz blieben aus und wären auch nicht nötig gewesen. Ignaz Seipels stark von religiösen Überzeugungen geprägtes politisches Verständnis deckte sich größtenteils mit jenem der Kurie. Von sich aus nahm er sich konfessioneller Anliegen an und musste nicht eigens dafür interessiert werden. Noch weniger war er auf theologische Ratschläge oder Lektionen in Staatstheorie angewiesen. Zu einem Konflikt zwischen staatlichen und kirchlichen Interessen konnte es folglich nur schwer kommen, da für Seipel kirchliche Anliegen stets zum Wohle des Staates waren. Loyalitätskonflikte entzündeten sich des-halb weniger an grundsätzlichen Richtungsfragen, sondern waren eher Folge von Inter-ventionen. Sein diplomatisches Geschick erlaubte ihm aber, Gewissenskonflikte elegant zu entschärfen.