Abstract (deu)
Die Dissertation befasst sich mit verschiedenen historischen Kontexten der Entstehung und des Gebrauchs gerichtsmedizinischen Wissens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Anhand der Praxis gerichtsmedizinischer Experten in Wien und anhand des Beispiels Kindsmord werden mehrere wissenschaftshistorische Fragen zu Denk- und Arbeitsweisen der Disziplin thematisiert. Die Position der gerichtlichen Medizin an der Schnittstelle von naturwissenschaftlicher Medizin und Recht ist dabei von zentralem Interesse.
Der erste Abschnitt ist der Institutionalisierung der gerichtlichen Medizin in Wien gewidmet, wo 1804 die erste Lehrkanzel an einer deutschsprachigen Universität gegründet wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten Wiener Gerichtsmediziner aufgrund der lokal spezifischen Entwicklung ihres Fachs ein geschichtliches Selbstverständnis ausgebildet, das Arbeitsschwerpunkte und Arbeitsmethoden der Praxis prägte und sich deutlich von den fachlichen Zugangsweisen von Gerichtsmediziner an anderen Universitätsstandorten unterschied. Ein Überblick über Entwicklungen der Disziplin im deutschsprachigen Raum dient dazu, lokale Faktoren, die auf wissenschaftliches Wissen einwirkten, genauer zu bestimmen.
Im zweiten Teil steht das Verbrechen Kindsmord, das in allen Abschnitten der Dissertation als Beispiel eines typischen Gegenstandes der gerichtlichen Medizin dient, im Zentrum der Untersuchung. Diskursive Kontexte werden in ihren historischen Verläufen skizziert, um aufzuzeigen, in welchen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen medizinische Sachverständige ihre Expertisen in Gerichtsverhandlungen anfertigten. Zudem wird die soziale Situation jener Frauen dargelegt, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Wien unter Kindsmordverdacht gerieten oder des Verbrechens angeklagt wurden.
Im letzten Kapitel werden Arbeits- und Erkenntnisschritte der gerichtlichen Medizin anhand der drei wichtigsten schriftlichen Produkte aus der professionellen Praxis rekonstruiert. Obduktionsprotokolle, Obduktionsgutachten und publizierte gerichtsmedizinische Fallbeschreibungen werden nicht nur ihrem Inhalt nach untersucht, sondern als materielle Formen verstanden, die am Prozess der Herstellung des Wissens der gerichtlichen Medizin beteiligt waren. Die Textsorten selbst werden dahingehend befragt, nach welchen Regeln sie beschaffen sein mussten, um objektive gerichtsmedizinische Expertisen schriftlich festzuhalten und in fachwissenschaftlichen sowie in rechtlichen Räumen präsent zu machen.