Abstract (deu)
Thema dieser Arbeit ist die Erforschung der Zusammenhänge zwischen der Intention des Theaters der Unterdrückten und einer Ästhetik der Wahrnehmung unter besonderer Berücksichtigung der sich verändernden Weltbilder und Produktionsbedingungen seit den 1960er und 1970er Jahren.
Ausgehend von den revolutionären Theaterbewegungen Lateinamerikas, deren Ziel, mit Paulo Freire, ein politischer Bewusstwerdungsprozess zur Mobilisierung der Volksmas-sen zur Demokratisierung der Länder war, ist seit der Grundsatzerklärung des Theaters der Unterdrückten, 2003, das deklarierte Ziel des TdU, die Humanisierung der Mensch-heit an sich. Im internationalen Netzwerk (ITO) sind mittlerweile Practitioners, Grup-pen und Bewegungen von allen Kontinenten in Kontakt.
Die Hauptthese der Arbeit ist, dass das Theater Augusto Boals, auch jenseits seines ur-sprünglichen Kontexts, im 21. Jahrhundert zur nachhaltigen Entwicklung von heilenden und lernenden Gesellschaften beitragen kann.
Die Untersuchung gliedert sich in drei Phasen. Im ersten Abschnitt widmet sich die Ar-beit der Ausarbeitung der freireanischen Grundlagen und Wurzeln des TdU, als auch dem Kontext des revolutionären Theaterdiskurses und den lateinamerikanischen Erfah-rungen Augusto Boals, die sowohl die Arbeit der brasilianischen Volkskulturzentren, die Arbeit mit dem Arena Theater als auch die Beteiligung am peruanischen Alphabetisie-rungsprojekt ALFIN umfasst.
Kernaussage ist eine freireanische Deutung der 2003 publizierten Grundsatzerklärung des TdU. Im zweiten Abschnitt wird in einer Art geomorphologischem Vergleich und ‚Rekonstruktionsversuch‘ des TdU mit der partizipatorischen Aktionsforschung Orlando Fals Bordas und dem kollektiven Schaffensprozess der Creación Colectiva, ausgehend der Arbeit Enrique Buenaventuras, die Verbindung zu emanzipatorischer Kunst und Wissenschaft in Kolumbien hergestellt.
Ziel dieses Vergleichs ist es, essentielle kontextuale Eigenschaften des Theaters der Un-terdrückten, die u. U. während seines Transfers nach Europa ‚wegfielen‘, wieder in den Wahrnehmungsvordergrund zu integrieren, um ein umfassenderes Bild der Gesamtge-stalt des TdU darstellen zu können, und so erweiterte Anknüpfungsmöglichkeiten für im 21. Jahrhundert relevante Überlegungen bieten zu können.
Der dritte Teil kontextualisiert das Theater Augusto Boals in einer Ästhetik der Wahr-nehmung und der Frieden. Auf somatischer Ebene bedient sie sich hierbei der Wahr-nehmungsschule von Moshé Feldenkrais, dessen Methoden von Boal selbst in seine Ar-beit integriert wurden.
Die Untersuchung ergibt als Hauptanliegen emanzipatorischer Forschung, Wissenschaft und Kunst, die Wiederherstellung und Aneignung der Geschichte sowohl auf persönlich-biographischer als auch auf politisch-gemeinschaftlicher Ebene. Das als ‚autopoietisch‘ verstandene Theater Boals wird hier zum Raum der Selbstschöpfung, Wahrnehmungs-schulung und Kommunikation, als auch zum sensiblen künstlerischen Weg, im Prozess für dynamischen, sich als transrational verstehenden, Frieden.