Abstract (deu)
In der vorliegenden Arbeit wird mit der Kinderliteratur-Travestie ein Gattungsbegriff definiert, mit dem Texte, deren eindeutige Zuordnung zur Kinderliteratur oder zur satirischen Allgemeinliteratur nicht möglich ist, adäquat beschrieben werden können. Die Kinderliteratur-Travestie ist eine Gattung an der Grenze von Kinderliteratur und satirischer Allgemeinliteratur, in der kinderliterarische Akkommodationsformen im Sinn der Travestie Verwendung finden, um auf ironische Weise einen infantilen Erwachsenen als fiktiven Leser anzusprechen.
Für die Gattungsbestimmung und für die daran anschließenden exemplarischen Textanalysen werden zwei psychologische Theorien herangezogen: Eric Bernes Transaktionsanalyse ermöglicht eine detaillierte Beschreibung der literarischen Kommunikationsstruktur unter Berücksichtigung der Kindheitsadressierung, und Lawrence Kohlbergs Stufenmodell der Moralentwicklung bietet distinkte Kategorien, mithilfe derer das moralische Denken literarischer Figuren sowie der Typus des fiktiven infantilen Erwachsenen beschrieben werden kann.
Auf der übergeordneten Ebene der Kommunikation zwischen abstraktem Autor und abstraktem Leser unterscheiden sich Texte, die der Kinderliteratur-Travestie zugerechnet werden können, graduell voneinander: Je nach Dominanz der Adressierung an Erwachsene als eigentliche Adressaten oder als Mitleser von (doppelsinniger) Kinderliteratur können sie in einem Kontinuum verortet werden, dessen Grenzwerte die Kinderliteratur-Travestie im engeren Sinn und die doppelsinnige Kinderliteratur sind. Das gesamte Kontinuum wird als Kinderliteratur-Travestie im weiteren Sinn bezeichnet.
An die Begriffsdefinition schließt ein gattungshistorischer Überblick mit exemplarischen Textanalysen an, der schwerpunktmäßig die Anfänge der Kinderliteratur-Travestie in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts, die Kinderliteratur-Travestie in Österreich um 1968/70 sowie in Österreich um 2000 beleuchtet.