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Title (deu)
Situationen der Selbstbezüglichkeit
Studien zur Reflexivität kritischer Denk- und Schreibformen bei Friedrich Nietzsche
Author
Jakob Dellinger
Advisor
Gerhard Gotz
Assessor
Gerhard Gotz
Assessor
Andreas Urs Sommer
Abstract (deu)
Die vorliegende kumulative Dissertation versammelt 14 bereits publizierte bzw. im Erscheinen befindliche Studien und ein noch unveröffentlichtes Manuskript zu Problemen der Selbstbezüglichkeit in der Philosophie Friedrich Nietzsches. Während insbesondere im Rahmen der ‚naturalistisch‘ orientierten anglophonen Nietzscheforschung Bestrebungen vorherrschen, Selbstbezüge und die sich daraus ergebenden, irritierenden und mitunter paradoxen Konsequenzen zu vermeiden, demonstrieren die versammelten Studien, dass Nietzsches Texte in verschiedensten Bereichen gezielt mit Selbstbezügen operieren: So erweisen sich etwa Aussagen über das Perspektivische ihrerseits als perspektivisch, die Rede vom ‚Willen zur Macht‘ als Inszenierung des ‚geistigsten Willens zur Macht‘ oder moralkritische Äußerungen als moralisch motiviert. Damit kann einerseits an Ansätze zu einer positiven Bewertung von Selbstbezüglichkeiten in Nietzsches Denken durch Interpreten wie Karl Jaspers oder Wolfgang Müller-Lauter angeknüpft werden, andererseits werden jedoch nicht mehr theoretische Positionen, die vermittels kompilierend-systematisierender Interpretationsverfahren aus Werk und Nachlass konstruiert wurden, sondern die in den veröffentlichten Schriften inszenierten textuellen Situationen als eigentlicher Ort der Selbstbezüglichkeit verstanden. In eingehenden, den Methoden der jüngeren textnahen Nietzscheforschung folgenden Detaillektüren exemplarischer Schlüsselpassagen wird so die konstitutive Bedeutung von Selbstbezüglichkeiten für zentrale Themenfelder wie das Perspektivische, den ‚Willen zur Macht‘, Nietzsches Moralkritik oder seine Symptomatisierung des Denkens nachgewiesen. Dabei bestätigt sich zugleich die Leithypothese der textnahen Forschung, wonach Form und Inhalt des nietzscheschen Denkens untrennbar verknüpft sind: Die Vielfalt und Tiefenstruktur seiner Selbstbezüglichkeiten erschließt sich nur in den konkreten textuellen Situationen, d.h. wenn die Reflexivität seiner kritischen Denk- und Schreibformen zugleich in den Blick genommen wird. Ergänzt wird die textnahe Lektüremethode mit Bezug auf den zentralen Problemkomplex des Perspektivischen durch Forschungsergebnisse, die im Rahmen des Nietzsche-Wörterbuch Projektes gewonnen wurden und ebenso wie die vorgelegten Textinterpretationen den Schluss nahelegen, dass Nietzsche das Schlüsselmotiv des Perspektivischen zwar in unterschiedliche, schriftstellerisch aufwändig gestaltete Situationen der Selbstbezüglichkeit führt, aber keine einheitliche Theorie oder Lehrmeinung namens ‚Perspektivismus‘ propagiert. Insbesondere die Selbstbezüge des Perspektivischen können in diesem Sinne zwar als kritische Reflexionshorizonte interpretiert werden, von denen her man auch scheinbar dogmatische, naive oder gegensätzliche Äußerungen als Elemente einer ‚perspektivischen‘ Denk- und Schreibpraxis begreifen kann, führen jedoch nicht zur Etablierung, sondern einzig zur kritischen Perspektivierung einer vermeintlichen Theorie des ‚Perspektivismus‘. Philosophiehistorisch lässt sich die Reflexivität kritischer Denkformen wie des Perspektivischen oder des ‚Willens zur Macht‘ sowohl in die Traditionslinie der bei Hegel zum Sich-selbst-Kritisieren von Denkformen radikalisierten Vernunftkritik Kants stellen, als auch mit Luhmanns Projekt einer sich über Selbstbezüglichkeit fundierenden Supertheorie sozialer Systeme kontrastieren: In den Vergleichen mit Hegels selbstbezüglicher Logik und Luhmanns selbstbezüglicher Systemtheorie zeigt sich so einerseits das spekulative Niveau von Nietzsches Philosophie, andererseits jedoch auch die jegliche Ansätze zur System- oder Theoriebildung unterlaufenden, subversiv-destabilisierenden Konsequenzen, die Situationen der Selbstbezüglichkeit in seinen Schriften zeitigen.
Abstract (eng)
This cumulative doctoral thesis collects 14 published or forthcoming studies and one previously undisclosed manuscript on problems of self-reference in the philosophy of Friedrich Nietzsche. Whereas especially ‘naturalistically’-minded anglophone scholars are predominantly striving to avoid self-references and their irritating, sometimes paradoxical consequences, the studies collected here demonstrate that Nietzsche’s texts are employing self-references on purpose in various areas. For example, statements about ‘the perspectival’ prove to be perspectival themselves, the theme of ‘will to power’ shows to be a mise-en-scène of ‘the most spiritual will to power’ and attacks on morality appear motivated by two different forms of morality. On the one hand, this makes it possible to draw on existing initiatives for a positive assessment of self-references in Nietzsche’s thought by scholars such as Karl Jaspers or Wolfgang Müller-Lauter. On the other hand, the papers at hand no longer identify theoretical positions (which are typically construed through compiling passages from both published works and the Nachlass) as the core locus of self-reference, but rather individual textual situations in Nietzsche’s published writings. Following the methods of recent text-focused Nietzsche scholarship, detailed close-readings of exemplary key passages reveal the essential importance of self-reference for central themes such as ‘the perspectival’, ‘will to power’, Nietzsche’s critique of morality or his symptomatology of thinking. At the same time, these readings confirm the guiding methodological hypothesis that the form and content of Nietzsche’s thought are inextricably intertwined: The variety and depth of self-references in his philosophy become accessible solely through an analysis of the actual textual situations and by looking at the reflexivity of his forms of thought and forms of writing simultaneously. With regard to the key problem of ‘the perspectival’, this text-focused method is complemented by research that has been conducted within the scope of the Nietzsche-Wörterbuch project. Like the close-readings, the results obtained suggest that while the theme of ‘the perspectival’ is being presented in various, highly complex situations of self-reference, Nietzsche does not advocate a theory or position called ‘perspectivism’. In this sense, the self-references of perspectivity open up horizons of critical reflection that also allow to make sense of seemingly dogmatic, naive or conflicting statements by interpreting them as elements of a distinctively perspectival way of thinking and writing. Instead of establishing a theory of ‘perspectivism’, however, it is itself put into perspective. From a historical point of view, the reflexivity of critical forms of thought such as ‘the perspectival’ or the ‘will to power’ can be read in the tradition of Hegel’s radicalization of Kant’s critique of reason towards the idea that critical forms of thought must criticize themselves. Another comparative example is Luhmann’s project of using self-reference as a foundation for his ‘super-theory’ of social systems: The comparisons to Hegel’s self-referential logic and Luhman’s self-referential systems theory help highlight the tremendous level of reflexivity in Nietzsche’s philosophy, but at the same time, they also demonstrate how the possibility of creating systems or theories is undermined by the subversive, destabilizing effects that situations of self-reference yield throughout his writings.
Keywords (eng)
NietzscheSelf-ReferencePerspectivityPerspectivismWill to PowerCritiqueReflexivity
Keywords (deu)
NietzscheSelbstbezüglichkeitSelbstreferenzPerspektivitätPerspektivismusWille zur MachtKritikReflexivität
Type (deu)
Persistent identifier
https://phaidra.univie.ac.at/o:1317604
rdau:P60550 (deu)
474 S.
Number of pages
474
Study plan
Dr.-Studium der Philosophie Philosophie
[UA]
[092]
[296]
Members (1)
Title (deu)
Situationen der Selbstbezüglichkeit
Studien zur Reflexivität kritischer Denk- und Schreibformen bei Friedrich Nietzsche
Author
Jakob Dellinger
Abstract (deu)
Die vorliegende kumulative Dissertation versammelt 14 bereits publizierte bzw. im Erscheinen befindliche Studien und ein noch unveröffentlichtes Manuskript zu Problemen der Selbstbezüglichkeit in der Philosophie Friedrich Nietzsches. Während insbesondere im Rahmen der ‚naturalistisch‘ orientierten anglophonen Nietzscheforschung Bestrebungen vorherrschen, Selbstbezüge und die sich daraus ergebenden, irritierenden und mitunter paradoxen Konsequenzen zu vermeiden, demonstrieren die versammelten Studien, dass Nietzsches Texte in verschiedensten Bereichen gezielt mit Selbstbezügen operieren: So erweisen sich etwa Aussagen über das Perspektivische ihrerseits als perspektivisch, die Rede vom ‚Willen zur Macht‘ als Inszenierung des ‚geistigsten Willens zur Macht‘ oder moralkritische Äußerungen als moralisch motiviert. Damit kann einerseits an Ansätze zu einer positiven Bewertung von Selbstbezüglichkeiten in Nietzsches Denken durch Interpreten wie Karl Jaspers oder Wolfgang Müller-Lauter angeknüpft werden, andererseits werden jedoch nicht mehr theoretische Positionen, die vermittels kompilierend-systematisierender Interpretationsverfahren aus Werk und Nachlass konstruiert wurden, sondern die in den veröffentlichten Schriften inszenierten textuellen Situationen als eigentlicher Ort der Selbstbezüglichkeit verstanden. In eingehenden, den Methoden der jüngeren textnahen Nietzscheforschung folgenden Detaillektüren exemplarischer Schlüsselpassagen wird so die konstitutive Bedeutung von Selbstbezüglichkeiten für zentrale Themenfelder wie das Perspektivische, den ‚Willen zur Macht‘, Nietzsches Moralkritik oder seine Symptomatisierung des Denkens nachgewiesen. Dabei bestätigt sich zugleich die Leithypothese der textnahen Forschung, wonach Form und Inhalt des nietzscheschen Denkens untrennbar verknüpft sind: Die Vielfalt und Tiefenstruktur seiner Selbstbezüglichkeiten erschließt sich nur in den konkreten textuellen Situationen, d.h. wenn die Reflexivität seiner kritischen Denk- und Schreibformen zugleich in den Blick genommen wird. Ergänzt wird die textnahe Lektüremethode mit Bezug auf den zentralen Problemkomplex des Perspektivischen durch Forschungsergebnisse, die im Rahmen des Nietzsche-Wörterbuch Projektes gewonnen wurden und ebenso wie die vorgelegten Textinterpretationen den Schluss nahelegen, dass Nietzsche das Schlüsselmotiv des Perspektivischen zwar in unterschiedliche, schriftstellerisch aufwändig gestaltete Situationen der Selbstbezüglichkeit führt, aber keine einheitliche Theorie oder Lehrmeinung namens ‚Perspektivismus‘ propagiert. Insbesondere die Selbstbezüge des Perspektivischen können in diesem Sinne zwar als kritische Reflexionshorizonte interpretiert werden, von denen her man auch scheinbar dogmatische, naive oder gegensätzliche Äußerungen als Elemente einer ‚perspektivischen‘ Denk- und Schreibpraxis begreifen kann, führen jedoch nicht zur Etablierung, sondern einzig zur kritischen Perspektivierung einer vermeintlichen Theorie des ‚Perspektivismus‘. Philosophiehistorisch lässt sich die Reflexivität kritischer Denkformen wie des Perspektivischen oder des ‚Willens zur Macht‘ sowohl in die Traditionslinie der bei Hegel zum Sich-selbst-Kritisieren von Denkformen radikalisierten Vernunftkritik Kants stellen, als auch mit Luhmanns Projekt einer sich über Selbstbezüglichkeit fundierenden Supertheorie sozialer Systeme kontrastieren: In den Vergleichen mit Hegels selbstbezüglicher Logik und Luhmanns selbstbezüglicher Systemtheorie zeigt sich so einerseits das spekulative Niveau von Nietzsches Philosophie, andererseits jedoch auch die jegliche Ansätze zur System- oder Theoriebildung unterlaufenden, subversiv-destabilisierenden Konsequenzen, die Situationen der Selbstbezüglichkeit in seinen Schriften zeitigen.
Abstract (eng)
This cumulative doctoral thesis collects 14 published or forthcoming studies and one previously undisclosed manuscript on problems of self-reference in the philosophy of Friedrich Nietzsche. Whereas especially ‘naturalistically’-minded anglophone scholars are predominantly striving to avoid self-references and their irritating, sometimes paradoxical consequences, the studies collected here demonstrate that Nietzsche’s texts are employing self-references on purpose in various areas. For example, statements about ‘the perspectival’ prove to be perspectival themselves, the theme of ‘will to power’ shows to be a mise-en-scène of ‘the most spiritual will to power’ and attacks on morality appear motivated by two different forms of morality. On the one hand, this makes it possible to draw on existing initiatives for a positive assessment of self-references in Nietzsche’s thought by scholars such as Karl Jaspers or Wolfgang Müller-Lauter. On the other hand, the papers at hand no longer identify theoretical positions (which are typically construed through compiling passages from both published works and the Nachlass) as the core locus of self-reference, but rather individual textual situations in Nietzsche’s published writings. Following the methods of recent text-focused Nietzsche scholarship, detailed close-readings of exemplary key passages reveal the essential importance of self-reference for central themes such as ‘the perspectival’, ‘will to power’, Nietzsche’s critique of morality or his symptomatology of thinking. At the same time, these readings confirm the guiding methodological hypothesis that the form and content of Nietzsche’s thought are inextricably intertwined: The variety and depth of self-references in his philosophy become accessible solely through an analysis of the actual textual situations and by looking at the reflexivity of his forms of thought and forms of writing simultaneously. With regard to the key problem of ‘the perspectival’, this text-focused method is complemented by research that has been conducted within the scope of the Nietzsche-Wörterbuch project. Like the close-readings, the results obtained suggest that while the theme of ‘the perspectival’ is being presented in various, highly complex situations of self-reference, Nietzsche does not advocate a theory or position called ‘perspectivism’. In this sense, the self-references of perspectivity open up horizons of critical reflection that also allow to make sense of seemingly dogmatic, naive or conflicting statements by interpreting them as elements of a distinctively perspectival way of thinking and writing. Instead of establishing a theory of ‘perspectivism’, however, it is itself put into perspective. From a historical point of view, the reflexivity of critical forms of thought such as ‘the perspectival’ or the ‘will to power’ can be read in the tradition of Hegel’s radicalization of Kant’s critique of reason towards the idea that critical forms of thought must criticize themselves. Another comparative example is Luhmann’s project of using self-reference as a foundation for his ‘super-theory’ of social systems: The comparisons to Hegel’s self-referential logic and Luhman’s self-referential systems theory help highlight the tremendous level of reflexivity in Nietzsche’s philosophy, but at the same time, they also demonstrate how the possibility of creating systems or theories is undermined by the subversive, destabilizing effects that situations of self-reference yield throughout his writings.
Keywords (eng)
NietzscheSelf-ReferencePerspectivityPerspectivismWill to PowerCritiqueReflexivity
Keywords (deu)
NietzscheSelbstbezüglichkeitSelbstreferenzPerspektivitätPerspektivismusWille zur MachtKritikReflexivität
Type (deu)
Persistent identifier
https://phaidra.univie.ac.at/o:1317605
Number of pages
474