Abstract (deu)
Die vorliegende kumulative Dissertation versammelt 14 bereits publizierte bzw. im Erscheinen befindliche Studien und ein noch unveröffentlichtes Manuskript zu Problemen der Selbstbezüglichkeit in der Philosophie Friedrich Nietzsches. Während insbesondere im Rahmen der ‚naturalistisch‘ orientierten anglophonen Nietzscheforschung Bestrebungen vorherrschen, Selbstbezüge und die sich daraus ergebenden, irritierenden und mitunter paradoxen Konsequenzen zu vermeiden, demonstrieren die versammelten Studien, dass Nietzsches Texte in verschiedensten Bereichen gezielt mit Selbstbezügen operieren: So erweisen sich etwa Aussagen über das Perspektivische ihrerseits als perspektivisch, die Rede vom ‚Willen zur Macht‘ als Inszenierung des ‚geistigsten Willens zur Macht‘ oder moralkritische Äußerungen als moralisch motiviert. Damit kann einerseits an Ansätze zu einer positiven Bewertung von Selbstbezüglichkeiten in Nietzsches Denken durch Interpreten wie Karl Jaspers oder Wolfgang Müller-Lauter angeknüpft werden, andererseits werden jedoch nicht mehr theoretische Positionen, die vermittels kompilierend-systematisierender Interpretationsverfahren aus Werk und Nachlass konstruiert wurden, sondern die in den veröffentlichten Schriften inszenierten textuellen Situationen als eigentlicher Ort der Selbstbezüglichkeit verstanden. In eingehenden, den Methoden der jüngeren textnahen Nietzscheforschung folgenden Detaillektüren exemplarischer Schlüsselpassagen wird so die konstitutive Bedeutung von Selbstbezüglichkeiten für zentrale Themenfelder wie das Perspektivische, den ‚Willen zur Macht‘, Nietzsches Moralkritik oder seine Symptomatisierung des Denkens nachgewiesen. Dabei bestätigt sich zugleich die Leithypothese der textnahen Forschung, wonach Form und Inhalt des nietzscheschen Denkens untrennbar verknüpft sind: Die Vielfalt und Tiefenstruktur seiner Selbstbezüglichkeiten erschließt sich nur in den konkreten textuellen Situationen, d.h. wenn die Reflexivität seiner kritischen Denk- und Schreibformen zugleich in den Blick genommen wird. Ergänzt wird die textnahe Lektüremethode mit Bezug auf den zentralen Problemkomplex des Perspektivischen durch Forschungsergebnisse, die im Rahmen des Nietzsche-Wörterbuch Projektes gewonnen wurden und ebenso wie die vorgelegten Textinterpretationen den Schluss nahelegen, dass Nietzsche das Schlüsselmotiv des Perspektivischen zwar in unterschiedliche, schriftstellerisch aufwändig gestaltete Situationen der Selbstbezüglichkeit führt, aber keine einheitliche Theorie oder Lehrmeinung namens ‚Perspektivismus‘ propagiert. Insbesondere die Selbstbezüge des Perspektivischen können in diesem Sinne zwar als kritische Reflexionshorizonte interpretiert werden, von denen her man auch scheinbar dogmatische, naive oder gegensätzliche Äußerungen als Elemente einer ‚perspektivischen‘ Denk- und Schreibpraxis begreifen kann, führen jedoch nicht zur Etablierung, sondern einzig zur kritischen Perspektivierung einer vermeintlichen Theorie des ‚Perspektivismus‘. Philosophiehistorisch lässt sich die Reflexivität kritischer Denkformen wie des Perspektivischen oder des ‚Willens zur Macht‘ sowohl in die Traditionslinie der bei Hegel zum Sich-selbst-Kritisieren von Denkformen radikalisierten Vernunftkritik Kants stellen, als auch mit Luhmanns Projekt einer sich über Selbstbezüglichkeit fundierenden Supertheorie sozialer Systeme kontrastieren: In den Vergleichen mit Hegels selbstbezüglicher Logik und Luhmanns selbstbezüglicher Systemtheorie zeigt sich so einerseits das spekulative Niveau von Nietzsches Philosophie, andererseits jedoch auch die jegliche Ansätze zur System- oder Theoriebildung unterlaufenden, subversiv-destabilisierenden Konsequenzen, die Situationen der Selbstbezüglichkeit in seinen Schriften zeitigen.