Abstract (deu)
Die komplexe „soziotechnologische Naturkatastrophe“ in Fukushima bot eine wichtige Gelegenheit der Demonstration internationaler Anstrengungen von Notfallmaßnahmen und angewandter Krisenkommunikation im nuklearen Bereich. Der Atomunfall von Fukushima war zwar nur einer von mehreren solchen Anlässen, doch er zeigte, dass die derzeitigen Erwartungen der Öffentlichkeit an das Management einer Atomkrise und die tatsächliche Umsetzung von Notfallschutzmaßnahmen nicht erfüllt werden. Einerseits basieren die Technologien sowie die organisatorischen Strukturen und Leitlinien, die für die Bewältigung von nuklearen Notfällen durch die zuständigen Regierungsbehörden entwickelt wurden, auf Erfahrungen aus der Vergangenheit, insbesondere aus dem Unfall von Tschernobyl aus dem Jahr 1986. Auf der anderen Seite zeigte der Unfall von Fukushima, dass nukleare Notfälle keinem vorhersehbaren Verlauf folgen. Diese Erkenntnisse verlangen ein Umdenken im Rahmen der Reaktion auf nukleare Notfälle nicht nur in einem streng technokratischen Zusammenhang, wie bisher, sondern in einem breiteren soziotechnischen Kontext.
Systeme zur Entscheidungsunterstützung für das nukleare Notfallmanagement (DSNE) stellen derzeit eine der Kerntechnologien dar, die von staatlich berufenen Krisenstäben weltweit in Nuklearkrisen eingesetzt werden. Sie basieren auf der anhand von Computersimulationen ermittelten Prognose der atmosphärischen Ausbreitung radioaktiver Stoffe, die aus beschädigten Kernreaktoren freigesetzt werden. Atmosphärische Ausbreitungssimulationen werden von den Mitgliedern des Krisenstabs zur Unterstützung von Entscheidungen über Evakuierungsprioritäten und andere Notfallschutzmaßnahmen eingesetzt. Zusätzlich zu dem Einsatz von DSNE-Systemen müssen die Mitglieder des Krisenstabs die radiologische Risikosituation der Öffentlichkeit wirksam mitteilen und die am besten geeigneten Schutzmaßnahmen ergreifen, um die Bevölkerung vor den Auswirkungen der Strahlung zu schützen.
Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, die STS-Literatur über soziotechnische Imaginäre um die Analyse einiger „post-Containment“ soziotechnischer Imaginäre der Nuklearära, die nach den Three Mile Island und Tschernobyl Unfällen entstanden sind, zu ergänzen. Des Weiteren wird untersucht, wie sich DSNE-Systeme in Deutschland zu einer wichtigen Technologie zur Unterstützung des nuklearen Risikomanagements entwickelt haben und wie sich die „post-Containment“ Imaginäre der Nuklearära sowie die entstandenen Gedankenkollektive und Praktiken im Bereich der Benutzung und Entwicklung von DSNE-Systemen gegenseitig beeinflusst haben. Abschließend wird untersucht, wie der Fukushima Unfall die „post-Containment“ Imaginäre der Nuklearära sowie die Gemeinschaft deutscher Nuklearexperten umgestaltet hat. Um diese Forschungsfragen zu beantworten wurden drei Fallstudien herangezogen. Die erste Fallstudie behandelt einen speziellen deutschen Reaktorentwurf, der von seinen Befürwortern als "inhärent sicher" bezeichnet wurde. Die zweite Fallstudie beschäftigt sich mit der Entstehung und Nutzung von DSNE-Systemen und der dazugehörigen Gedankenkollektive und Praktiken. Die dritte Fallstudie gibt einen Überblick über die Geschichte der Gemeinschaft deutscher Atomwissenschaftler und -ingenieure am Beispiel des Instituts für Kernenergetik und Energiesysteme (IKE) der Universität Stuttgart.
Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, dass zusätzlich zu den technopolitischen Agenden ihrer Befürworter ein weiteres Phänomen existiert, das soziotechnische Imaginäre performativ und für Experten, Politiker und Laien interessant macht. Dieses Phänomen deutet auf einen kontinuierlich stattfindenden evolutionären Konkurrenzkampf zwischen zeitgenössischen Imaginären hin. In diesem Wettbewerb werden Kämpfe manchmal durch Zufall und andere Male durch einen langen Stabilisierungsprozess gewonnen. Im erstgenannten Fall kann durch ein disruptives Ereignis wie ein "normaler Unfall" oder eine bedeutende Verschiebung der technopolitischen Ordnung ein Imaginär entstehen, während es ein anderes an seiner Stelle etabliert. Im letzteren Fall können sich neue Genres und Subgenres des aufkommenden Imaginärs über einen längeren Zeitraum nahtlos entwickeln. Die Beobachtung, dass die verschiedenen Imaginäre der Nuklearära einem Evolutionsprozess folgen, ermöglichte es, einige ihrer Schlüsselmerkmale zu identifizieren, die mit den existierenden Theorien über soziotechnische Imaginäre, rhetorische Visionen und Phantasien in Zusammenhang stehen. Die Arbeit gibt auch einen Ausblick auf die mögliche Weiterentwicklung des soziotechnischen Imaginärs der Notfallschutzbereitschaft und auf die Art und Weise, in der es neben den starrdefinierten Notfallplänen auch von der Beteiligung der Öffentlichkeit und Improvisation profitieren könnte.