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Title (deu)
Mit den Händen sehen - der Touchscreen als Medium der Kontrollgesellschaft
Parallel title (eng)
Seeing with the hands - the touchscreen as a media of societies of control
Author
Moritz Hartmann
Adviser
Andrea Seier
Assessor
Andrea Seier
Abstract (deu)
Erfindungen wie der Buchdruck oder die Zentralperspektive haben ein betrachtendes Subjekt herausgebildet und den Sehsinn zum privilegierten Sinn gemacht. Subjekte sollten aufgrund einer distanzierten Haltung zum Gegenstand zum Erkenntnisgewinn gelangen und eine autonome Reflexion vollziehen. Über mehrere Jahrhunderte galt dieses Visualprimat in unseren westlichen Kulturen. Mit Michel Foucaults Modell der Disziplinargesellschaft lässt sich die Bedeutung der Visuellen und der Sichtbarkeit für Machttechniken verstehen. In der Disziplinargesellschaft wirkt Macht über Blickbeziehungen und Überwachungen, sowie durch Separationen und Individualsierungen, also letztlich durch Abschottung und Distanzierung. Mit der Industrialisierung wird allerdings deutlich, dass der distanzierende Sehsinn für die Weltwahrnehmung nicht mehr ausreicht. Mit den neuen kapitalistischen Strukturen, dem erhöhten Warenstrom, nicht nur in Form von materiellen Gütern, sondern auch von Bildern und anderen Reizen, braucht es andere Formen der Weltwahrnehmung. Mehrere Wissenschaftler_innen haben ab dem 20. Jahrhundert über den Tastsinn reflektiert. Dabei kommt auch den technischen Medien eine besondere Rolle zu: Denn Taktilität beschränkt sich nicht mehr nur auf direkte Berührungen, sondern Taktilität gibt es nun auch in einer technisch vermittelten Form. Mittels Fernsehen und Film beispielsweise rücken die Menschen immer näher zusammen, sie sind aufeinander bezogen. Statt Distanz ist die Beziehung der Menschen zueinander durch Abstandslosigkeit bestimmt. Die Industrialisierung besiegelt also das Ende des Visualprimats. Gleichzeitig müssen sich auch die Machttechniken der Disziplinargesellschaft wandeln. Denn auch sie sind nicht an die neuen Umstände durch die Industrialisierung angepasst. Die Disziplinargesellschaft wandelt sich in die Kontrollgesellschaft, die Gilles Deleuze beschrieben hat. Subjektivierung vollzieht sich nicht mehr in rigiden Einschließungsmilieus, sondern durch flexible Modulationen, die sich immer wieder der Umwelt anpassen können. Die Macht breitet sich nicht mehr von einem Zentrum aus, sondern sie ist auf alle Körper der Gesellschaft verteilt. Es gibt keine Trennung mehr zwischen Überwachten und Überwacher_innen. Da nun alle aufeinander bezogen sind und nicht mehr isoliert voneinander agieren, sind die Beziehungen in der Kontrollgesellschaft von Abstandslosigkeit bestimmt. Der Touchscreen ist dabei eine materialisierte Kontrollform. Zum einen wird ihm die ständige Möglichkeit der Anpassung manifest: Tasten sind nicht mehr materiell in ihm eingelassen, sondern sie erscheinen und verschwinden auf der Oberfläche, je nach Nutzung. Zum anderen wird durch die Illusion der Bewegungsfreiheit der Finger auf der Touchoberfläche (denn die Finger können nicht nur drücken, sondern auch wischen) die Bedienung zu einem Prozess, die zwischen Nutzer_in und Bildschirm abläuft. Nutzer_in und Gerät sind nicht mehr voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen, sie agieren miteinander. Gleichzeitig ruft der Bildschirm die Nutzer_innen permanent an, Entscheidungen zu treffen und sich auszustellen: Die Nutzer_innen gehen so ein Mimikry-Verhältnis mit dem Touchscreen-basierten Gerät ein, indem sowohl auf dem Screen als auch auf der Oberfläche der Nutzer_innen alles sichtbar werden muss. Die Subjekte haben nun keinen inneren Kern mehr, sondern alles, was sie ausmacht, wird auf der Oberfläche ablesbar. Der Screen negiert jegliche Form von Distanz. Anhand der Betrachtung des Tastsinns und am Beispiel des Touchscreens wird deutlich, wie Macht und Subjektivierung funktioniert: Die Macht ist produktiv und funktioniert durch Anrufung statt durch Repression. Der Ausstellungszwang, der heute zum Beispiel in der sogenannten Selfie-Kultur beobachtet werden kann, kann mit der Entwicklung von Diziplinar- in Kontrolltechniken beschrieben und diskursiviert werden. Der Touchscreen ist dabei die mediale Form der Machttechniken der Kontrollgesellschaft.
Keywords (deu)
MedienwissenschaftTouchscreenMachtMachttheorienMichel FoucaultGilles DeleuzeDisziplinargesellschaftKontrollgesellschaftTaktilität
Type (deu)
Persistent identifier
https://phaidra.univie.ac.at/o:1340597
rdau:P60550 (deu)
82 Seiten
Number of pages
82
Members (1)
Title (deu)
Mit den Händen sehen - der Touchscreen als Medium der Kontrollgesellschaft
Parallel title (eng)
Seeing with the hands - the touchscreen as a media of societies of control
Author
Moritz Hartmann
Abstract (deu)
Erfindungen wie der Buchdruck oder die Zentralperspektive haben ein betrachtendes Subjekt herausgebildet und den Sehsinn zum privilegierten Sinn gemacht. Subjekte sollten aufgrund einer distanzierten Haltung zum Gegenstand zum Erkenntnisgewinn gelangen und eine autonome Reflexion vollziehen. Über mehrere Jahrhunderte galt dieses Visualprimat in unseren westlichen Kulturen. Mit Michel Foucaults Modell der Disziplinargesellschaft lässt sich die Bedeutung der Visuellen und der Sichtbarkeit für Machttechniken verstehen. In der Disziplinargesellschaft wirkt Macht über Blickbeziehungen und Überwachungen, sowie durch Separationen und Individualsierungen, also letztlich durch Abschottung und Distanzierung. Mit der Industrialisierung wird allerdings deutlich, dass der distanzierende Sehsinn für die Weltwahrnehmung nicht mehr ausreicht. Mit den neuen kapitalistischen Strukturen, dem erhöhten Warenstrom, nicht nur in Form von materiellen Gütern, sondern auch von Bildern und anderen Reizen, braucht es andere Formen der Weltwahrnehmung. Mehrere Wissenschaftler_innen haben ab dem 20. Jahrhundert über den Tastsinn reflektiert. Dabei kommt auch den technischen Medien eine besondere Rolle zu: Denn Taktilität beschränkt sich nicht mehr nur auf direkte Berührungen, sondern Taktilität gibt es nun auch in einer technisch vermittelten Form. Mittels Fernsehen und Film beispielsweise rücken die Menschen immer näher zusammen, sie sind aufeinander bezogen. Statt Distanz ist die Beziehung der Menschen zueinander durch Abstandslosigkeit bestimmt. Die Industrialisierung besiegelt also das Ende des Visualprimats. Gleichzeitig müssen sich auch die Machttechniken der Disziplinargesellschaft wandeln. Denn auch sie sind nicht an die neuen Umstände durch die Industrialisierung angepasst. Die Disziplinargesellschaft wandelt sich in die Kontrollgesellschaft, die Gilles Deleuze beschrieben hat. Subjektivierung vollzieht sich nicht mehr in rigiden Einschließungsmilieus, sondern durch flexible Modulationen, die sich immer wieder der Umwelt anpassen können. Die Macht breitet sich nicht mehr von einem Zentrum aus, sondern sie ist auf alle Körper der Gesellschaft verteilt. Es gibt keine Trennung mehr zwischen Überwachten und Überwacher_innen. Da nun alle aufeinander bezogen sind und nicht mehr isoliert voneinander agieren, sind die Beziehungen in der Kontrollgesellschaft von Abstandslosigkeit bestimmt. Der Touchscreen ist dabei eine materialisierte Kontrollform. Zum einen wird ihm die ständige Möglichkeit der Anpassung manifest: Tasten sind nicht mehr materiell in ihm eingelassen, sondern sie erscheinen und verschwinden auf der Oberfläche, je nach Nutzung. Zum anderen wird durch die Illusion der Bewegungsfreiheit der Finger auf der Touchoberfläche (denn die Finger können nicht nur drücken, sondern auch wischen) die Bedienung zu einem Prozess, die zwischen Nutzer_in und Bildschirm abläuft. Nutzer_in und Gerät sind nicht mehr voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen, sie agieren miteinander. Gleichzeitig ruft der Bildschirm die Nutzer_innen permanent an, Entscheidungen zu treffen und sich auszustellen: Die Nutzer_innen gehen so ein Mimikry-Verhältnis mit dem Touchscreen-basierten Gerät ein, indem sowohl auf dem Screen als auch auf der Oberfläche der Nutzer_innen alles sichtbar werden muss. Die Subjekte haben nun keinen inneren Kern mehr, sondern alles, was sie ausmacht, wird auf der Oberfläche ablesbar. Der Screen negiert jegliche Form von Distanz. Anhand der Betrachtung des Tastsinns und am Beispiel des Touchscreens wird deutlich, wie Macht und Subjektivierung funktioniert: Die Macht ist produktiv und funktioniert durch Anrufung statt durch Repression. Der Ausstellungszwang, der heute zum Beispiel in der sogenannten Selfie-Kultur beobachtet werden kann, kann mit der Entwicklung von Diziplinar- in Kontrolltechniken beschrieben und diskursiviert werden. Der Touchscreen ist dabei die mediale Form der Machttechniken der Kontrollgesellschaft.
Keywords (deu)
MedienwissenschaftTouchscreenMachtMachttheorienMichel FoucaultGilles DeleuzeDisziplinargesellschaftKontrollgesellschaftTaktilität
Type (deu)
Persistent identifier
https://phaidra.univie.ac.at/o:1340598
Number of pages
82