Title (eng)
Release from pre-trial detention in theory and practice in modern international criminal justice in the light of International and European Human Rights Standards
Parallel title (deu)
Freilassung aus der Untersuchungshaft in Theorie und Praxis im Modernen Völkerstrafrecht im Lichte Europäischer und Internationaler Menschenrechtsstandards
Author
Fabio Maurer
Advisor
Frank Höpfel
Assessor
Franz Merli
Stephan Wittich
Abstract (deu)
Die Untersuchungshaft (U-Haft) ist der vermutlich weitreichendste Eingriff in die Freiheitsrechte eines nicht rechtskräftig verurteilten Menschen. Führende internationale sowie regionale Menschenrechtskonventionen bekräftigen daher auch die Notwendigkeit einer restriktiven Praxis im Umgang mit der U-Haft. Eine solche darf, bei strenger Prüfung, nur für den Fall des Vorliegens (zumindest) eines konkret nachgewiesenen Haftgrundes – etwa Fluchtgefahr – angeordnet werden. Begründeter Tatverdacht oder die Schwere der zu erwartenden Strafe im Fall einer Verurteilung ersetzen dabei den Nachweis konkreter Haftgründe nicht.
Für Angeklagte vor dem Jugoslawien-Tribunal der Vereinten Nationen (Jug. Tribunal) sowie vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gelten diese Prinzipien oftmals nur sehr eingeschränkt. Besonders vor dem Jug. Tribunal fehlt bis heute eine Alternative zur U-Haft, und um (zumindest) eine temporäre Freilassung zu erwirken, liegt es am Antragsteller zu beweisen, dass Haft- bzw. Fluchtgründe nicht vorliegen. Die zusätzliche Verpflichtung der Darlegung „außergewöhnlicher Umstände“ seitens des Angeklagten in den Anfangsjahren des Tribunals, um eine Freilassung zu erwirken, wurde aus menschenrechtlicher Sicht analysiert und für inkompatibel mit Prinzipien etwa der Europäischen Konvention der Menschenrechte (EMRK) empfunden. Dieses zusätzliche Kriterium wurde 1999 ersatzlos gestrichen. Die Rechtskonformität der U-Haft vor dem Jug. Tribunal nach der Streichung wurde umfassend bewertet, insbesondere deren rechtliches Charakteristikum: Der Übergang der Beweislast auf den Angeklagten hinsichtlich des Nachweises des Nicht-Vorliegens der Haftgründe.
Diese zentrale Rechtsfrage, nämlich die Zulässigkeit einer strafrechtlichen Beweislastumkehr aus menschenrechtlicher Sicht, wurde unter Herannahme der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beleuchtet. Es wurden vier Prinzipien herausgearbeitet, bei deren Vorliegen eine solche Umkehr der Beweislast in Ausnahmefällen für zulässig zu erachten ist. Weiters wurden die Regelungen der U-Haft vor dem IStGH sowie der Mechanismus für Schwerkriminalität in der österreichischen Strafprozessordnung aus menschenrechtlichen Aspekten untersucht. In beiden Fällen wurde zwar eine Analogie zu einer Umkehr der Beweislast festgestellt, diese jedoch in ihrer konkreten Anwendung als nicht für unverhältnismäßig empfunden.
Im letzten Kapitel wurde aus Anlass der Prüfung der U-Haft aus menschenrechtlicher Sicht die Frage thematisiert, ob, zumindest bei Verdacht grober Menschenrechtsverletzungen vor den Haager Tribunalen (und Gerichtshöfen), die Anrufung des EGMR möglich sein könnte und sollte. Diese kontroversielle Frage wurde immerhin in Fragen der Kooperation der Mitgliedstaaten eindeutig bejaht. Hinsichtlich Verletzungen vor den Haager Tribunalen selbst wurde diese Möglichkeit für schwerste Rechtsverletzungen des Vökergewohnheitsrechts oder von ius cogens in Betracht gezogen.
Abstract (eng)
Pre-Trial detention is arguably the most far-reaching interference with the right to liberty of a person standing trial, who is to be presumed innocent. Leading human rights treaties at both international and regional levels hence also warrant for the exceptional character of detention prior to a final conviction. It may only be ordered in case of the existence of a substantiated detention ground; reasonable suspicion or the gravity of the alleged crime alone do not serve as valid detention grounds and may not justify longer periods of detention.
For those accused standing trial before the Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) or the International Criminal Court (ICC), this presumption of pre-trial liberty only applied in a very limited manner. Particularly in ICTY proceedings, an alternative to pre-trial detention was lacking and in order to be granted a temporary release, it was up to the defendant to discard the existence of any detention grounds. The additional burden to prove the existence of „exceptional circumstances“ in the first years of the ICTY was examined and ultimately found to be a manifest contravention of leading human rights principles, notably those of the European Convention on Human Rights (ECHR). While the requirement to demonstrate exceptional circumstances was later deleted, another controversial factor remained in place: the shifting of the burden of proof concerning the non-existence of detention grounds onto the defendant seeking release.
The legality of such a construct, the imposition of reverse burdens of proof onto defendants in criminal law, was thoroughly analysed by reverting to the pertinent jurisprudence of the European Court of Human Rights (ECtHR). Four main guiding principles were deduced from the ECtHR jurisprudence that, where cumulatively met, would exceptionally justify such a reversal of the burden of proof. Further, the pre-trial detention mechanism before the ICC and those in place in Austrian domestic proceedings applicable to (international) crimes punishable with sentences exceeding ten years of imprisonment were examined from a human rights point of view. In both cases, while analogies to reverse burdens of proof were discovered, both systems, as applied in practice, were held not to deprive the defendant of any rights of defence.
The last Chapter posed, against the background of a human rights assessment of the pre-trial release mechanism, the wider question whether a defendant in international criminal law does or should have access to human rights courts in case of a violation of his or her fundamental human rights. This controversial question was affirmed where member states were cooperating with the ICTY or the ICC. Regarding procedural violations before the courts such a scenario is merely imaginable in cases of grave violations of international customary law or jus cogens.
Keywords (eng)
Pre-Trial DetentionECHRICTYICCReverse Burdens of ProofSalabiakuEuropean Court of Human RightsUN Security Council
Keywords (deu)
UntersuchungshaftEMRKJugoslawientribunalInternationaler StrafgerichtshofEGMRSicherheitsrat der VN
Subject (deu)
Type (deu)
Persistent identifier
Extent (deu)
269 Seiten
Number of pages
269
Study plan
Doktoratsstudium Rechtswissenschaften
[UA]
[783]
[101]
Association (deu)
Title (eng)
Release from pre-trial detention in theory and practice in modern international criminal justice in the light of International and European Human Rights Standards
Parallel title (deu)
Freilassung aus der Untersuchungshaft in Theorie und Praxis im Modernen Völkerstrafrecht im Lichte Europäischer und Internationaler Menschenrechtsstandards
Author
Fabio Maurer
Abstract (deu)
Die Untersuchungshaft (U-Haft) ist der vermutlich weitreichendste Eingriff in die Freiheitsrechte eines nicht rechtskräftig verurteilten Menschen. Führende internationale sowie regionale Menschenrechtskonventionen bekräftigen daher auch die Notwendigkeit einer restriktiven Praxis im Umgang mit der U-Haft. Eine solche darf, bei strenger Prüfung, nur für den Fall des Vorliegens (zumindest) eines konkret nachgewiesenen Haftgrundes – etwa Fluchtgefahr – angeordnet werden. Begründeter Tatverdacht oder die Schwere der zu erwartenden Strafe im Fall einer Verurteilung ersetzen dabei den Nachweis konkreter Haftgründe nicht.
Für Angeklagte vor dem Jugoslawien-Tribunal der Vereinten Nationen (Jug. Tribunal) sowie vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gelten diese Prinzipien oftmals nur sehr eingeschränkt. Besonders vor dem Jug. Tribunal fehlt bis heute eine Alternative zur U-Haft, und um (zumindest) eine temporäre Freilassung zu erwirken, liegt es am Antragsteller zu beweisen, dass Haft- bzw. Fluchtgründe nicht vorliegen. Die zusätzliche Verpflichtung der Darlegung „außergewöhnlicher Umstände“ seitens des Angeklagten in den Anfangsjahren des Tribunals, um eine Freilassung zu erwirken, wurde aus menschenrechtlicher Sicht analysiert und für inkompatibel mit Prinzipien etwa der Europäischen Konvention der Menschenrechte (EMRK) empfunden. Dieses zusätzliche Kriterium wurde 1999 ersatzlos gestrichen. Die Rechtskonformität der U-Haft vor dem Jug. Tribunal nach der Streichung wurde umfassend bewertet, insbesondere deren rechtliches Charakteristikum: Der Übergang der Beweislast auf den Angeklagten hinsichtlich des Nachweises des Nicht-Vorliegens der Haftgründe.
Diese zentrale Rechtsfrage, nämlich die Zulässigkeit einer strafrechtlichen Beweislastumkehr aus menschenrechtlicher Sicht, wurde unter Herannahme der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beleuchtet. Es wurden vier Prinzipien herausgearbeitet, bei deren Vorliegen eine solche Umkehr der Beweislast in Ausnahmefällen für zulässig zu erachten ist. Weiters wurden die Regelungen der U-Haft vor dem IStGH sowie der Mechanismus für Schwerkriminalität in der österreichischen Strafprozessordnung aus menschenrechtlichen Aspekten untersucht. In beiden Fällen wurde zwar eine Analogie zu einer Umkehr der Beweislast festgestellt, diese jedoch in ihrer konkreten Anwendung als nicht für unverhältnismäßig empfunden.
Im letzten Kapitel wurde aus Anlass der Prüfung der U-Haft aus menschenrechtlicher Sicht die Frage thematisiert, ob, zumindest bei Verdacht grober Menschenrechtsverletzungen vor den Haager Tribunalen (und Gerichtshöfen), die Anrufung des EGMR möglich sein könnte und sollte. Diese kontroversielle Frage wurde immerhin in Fragen der Kooperation der Mitgliedstaaten eindeutig bejaht. Hinsichtlich Verletzungen vor den Haager Tribunalen selbst wurde diese Möglichkeit für schwerste Rechtsverletzungen des Vökergewohnheitsrechts oder von ius cogens in Betracht gezogen.
Abstract (eng)
Pre-Trial detention is arguably the most far-reaching interference with the right to liberty of a person standing trial, who is to be presumed innocent. Leading human rights treaties at both international and regional levels hence also warrant for the exceptional character of detention prior to a final conviction. It may only be ordered in case of the existence of a substantiated detention ground; reasonable suspicion or the gravity of the alleged crime alone do not serve as valid detention grounds and may not justify longer periods of detention.
For those accused standing trial before the Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) or the International Criminal Court (ICC), this presumption of pre-trial liberty only applied in a very limited manner. Particularly in ICTY proceedings, an alternative to pre-trial detention was lacking and in order to be granted a temporary release, it was up to the defendant to discard the existence of any detention grounds. The additional burden to prove the existence of „exceptional circumstances“ in the first years of the ICTY was examined and ultimately found to be a manifest contravention of leading human rights principles, notably those of the European Convention on Human Rights (ECHR). While the requirement to demonstrate exceptional circumstances was later deleted, another controversial factor remained in place: the shifting of the burden of proof concerning the non-existence of detention grounds onto the defendant seeking release.
The legality of such a construct, the imposition of reverse burdens of proof onto defendants in criminal law, was thoroughly analysed by reverting to the pertinent jurisprudence of the European Court of Human Rights (ECtHR). Four main guiding principles were deduced from the ECtHR jurisprudence that, where cumulatively met, would exceptionally justify such a reversal of the burden of proof. Further, the pre-trial detention mechanism before the ICC and those in place in Austrian domestic proceedings applicable to (international) crimes punishable with sentences exceeding ten years of imprisonment were examined from a human rights point of view. In both cases, while analogies to reverse burdens of proof were discovered, both systems, as applied in practice, were held not to deprive the defendant of any rights of defence.
The last Chapter posed, against the background of a human rights assessment of the pre-trial release mechanism, the wider question whether a defendant in international criminal law does or should have access to human rights courts in case of a violation of his or her fundamental human rights. This controversial question was affirmed where member states were cooperating with the ICTY or the ICC. Regarding procedural violations before the courts such a scenario is merely imaginable in cases of grave violations of international customary law or jus cogens.
Keywords (eng)
Pre-Trial DetentionECHRICTYICCReverse Burdens of ProofSalabiakuEuropean Court of Human RightsUN Security Council
Keywords (deu)
UntersuchungshaftEMRKJugoslawientribunalInternationaler StrafgerichtshofEGMRSicherheitsrat der VN
Subject (deu)
Type (deu)
Persistent identifier
Number of pages
269
Association (deu)
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