Abstract (deu)
Der Schauspieler Mauri[t]z Leon Reiss alias Leo Reuss wurde als Kind jüdischer Eltern am 30. März 1891 in Dolyna, Galizien (heutige Ukraine), geboren. Die Familie übersiedelte jedoch bald nach Wien, wo er aufwuchs und zur Schule ging. Bald nach seiner Schulbildung bestand er die Aufnahmeprüfung an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, wo er ab sofort Schauspiel studierte. Obwohl er bereits Pläne hatte, an welchen Theatern er spielen wolle, setzte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges einen Schlusspunkt unter diese Überlegungen, da er eingezogen wurde und als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg im Einsatz war. In dieser Zeit heiratete er und bekam mit seiner Frau Stefanie zwei Kinder.
Erst nach dem Ende des Krieges konnte er seine schauspielerischen Pläne weiterverfolgen. Nach ersten kleinen Engagements an Wiener Theatern wechselte er 1921 nach Deutschland und ließ seine Familie in Wien zurück, um an folgenden Theatern von 1921-1929 im Fixengagement zu spielen: an den Hamburger Kammerspielen, am Staatstheater Berlin und an der Volksbühne Berlin.
Ab 1929 schlug er sich zuerst als freier Schauspieler in Deutschland durch, bis er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Agnes Straub 1932 das Künstlerkollektiv „Theater der Schauspieler“ gründete – das spätere Tourneetheaterunternehmen namens „Straub-Tournée-Ensemble“, das die beiden gemeinsam bis 1935 leiteten. Die Nürnberger Rassengesetze, die am 15. September 1935 in Kraft traten, setzten diesem Unternehmen einen Schlusspunkt, da Leo Reuss als Jude ab sofort in Deutschland nicht mehr arbeiten durfte. Zuvor war es für ihn bereits sehr schwierig, als Schauspieler bei den Gastspielen des Kollektivs auf der Bühne zu stehen und zu spielen, da man Juden als Schauspieler nicht mehr sehr gerne sah.
Da er durch die politische Situation in Deutschland zur Untätigkeit gezwungen war, emigrierte er in seine frühere Heimat Wien, um dort wieder Theater spielen zu können. Jedoch war die Situation für ihn dort auch schwierig, da sehr viele deutsche Schauspieler bereits nach Wien geflüchtet waren und ebenfalls auf Engagements hofften. Nachdem sich nach Monaten kein Engagement ergab, tauchte er im Salzburgerischen ab und plante seine Verwandlung.
Im Sommer 1936 erschien ein blonder, vollbärtiger Bergbauer in ländlicher Tracht, der sich als „Vollblutarier“ und überzeugter Nationalsozialist ausgab, bei Max Reinhardt in Salzburg und versicherte ihm, Schauspieler werden zu wollen. Max Reinhardt, der von seinem Können und seiner Fassade voll überzeugt war, händigte ihm ein Empfehlungsschreiben aus, mit dem er ihn an die Theater in Wien empfahl. Leo Reuss, der nun Kaspar Altenberger hieß bzw. später den Künstlernamen Kaspar Brandhofer annahm und sich für seine „Verkleidung“ sowohl Originaldokumente besorgt als auch einen Lebenslauf entworfen hatte, der seine Geschichte vollständig abrunden sollte, sprach sowohl am Burgtheater als auch am Theater in der Josefstadt vor. Beide Theater hatten großes Interesse an einer Besetzung Kaspar Brandhofers. Das Theater in der Josefstadt unter der Leitung von Ernst Lothar war schneller und nahm das schauspielerische Bergbauern-Naturtalent unter Vertrag. So probte Kaspar Brandhofer ab Herbst 1936 in der Dramatisierung der Arthur Schnitzler Novelle Fräulein Else am Theater in der Josefstadt. Die gesamte Wiener Theaterszene war von der Entdeckung begeistert und fieberte der Premiere am 2. Dezember 1936 entgegen.
Die Reaktionen nach der Premiere waren überwältigend, sowohl beim Publikum, bei den Schauspielern, bei den Theaterexperten als auch in der Presse – sogar bei den nationalsozialistisch orientierten Blättern. Man war überzeugt, dass man hier einer wahren Theatersensation beiwohnen durfte und dass man von Kaspar Brandhofer noch sehr viel Bedeutendes in der Theaterszene hören wird.
Bereits sechs Tage nach der Premiere von Fräulein Else, also am 8. Dezember 1936, wurde ein Schreiben aus der Direktionskanzlei des Theaters in der Josefstadt veröffentlicht, das besagte, dass Kaspar Brandhofer in Wirklichkeit nur ein ums Überleben kämpfender jüdischer Schauspieler war, der durch diese Maskerade gehofft hatte, wieder Theater spielen zu können. Nachdem Leo Reuss durch die Aufdeckung wieder er selbst war, durfte er zwar das Engagement am Theater in der Josefstadt unter der Namensnennung Kaspar Brandhofer-Reuss noch zu Ende spielen, jedoch stand er danach wieder vor demselben Problem, dass er Engagements bekommen musste, was als jüdischer Schauspieler wieder genauso schwer war wie vor der Affäre Brandhofer.
Nach ein paar kleinen Engagements in Wien, wie zum Beispiel an den jüdischen Künstlerspielen, emigrierte er mit einem Vertrag der großen amerikanischen Filmproduktionsfirma MGM in die USA, um dort in amerikanischen Filmen böse Nazis zu spielen. Er wurde vorrangig als „bad German“ in Anti-Kriegs-Filmen besetzt. Nach Kriegsende blieb er in den USA, wo er bei einer Theatertournee in Manila am 1. April 1946 an einem Herzinfarkt starb.
Diese historische Verwandlungsgeschichte diente Felix Mitterer als Grundlage für das Verfassen seines Theaterstückes In der Löwengrube. Aus diesem Grund befasst sich das zweite Kapitel dieser Arbeit mit der Aufschlüsselung von historischen Parallelen und Unterschieden innerhalb von Felix Mitterers Theaterstück und der realen Vorlage von Leo Reuss´ Lebensgeschichte. Ebenfalls werden in diesem Zusammenhang zahlreiche Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft im Kontext dieser Affäre in Verbindung gesetzt.