Abstract (deu)
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Alltagswelt von erwachsenen Menschen mit Lernschwierigkeiten in vollbetreuten Einrichtungen in Österreich. Ausgehend von Überlegungen zur
Neoliberalisierung von care und der gouvernementalen Regierung der Menschen geht diese Forschung der Frage nach dem Umgang mit Andersartigkeit in dieser Gesellschaft nach und erkundet,
welche Subjektformen in den Einrichtungen hergestellt werden. Diesbezüglich wird nicht nur ergründet, welche Subjekte produziert werden, sondern wie diese Produktion durch Alltagspraktiken erfolgt und somit im Endeffekt, wie die Differenz in der Wertigkeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten hergestellt und stabilisiert wird. Der Fokus auf Praktiken — auf jegliches Tun und Sagen — und die damit verbundene Praxistheorie ermöglicht, jenseits einer akteurszentrierten
Sichtweise ein Verständnis des Sozialen durch die Alltagsaktivitäten selbst.
Zur Beantwortung dieser Fragen erfolgt einerseits eine theoretische Annäherung an die Eigenschaften der in westlichen Gesellschaften hegemonialen Personhood-Konzeption, die dem
autonomen Subjekt entspricht, und andererseits eine Suche nach gesellschaftlichen Mechanismen, durch die Differenz von Menschen erzeugt wird, um die beobachteten Alltagsaktivitäten in den Einrichtungen in einen größeren Kontext zu stellen. Methodisch wurde zwischen 2011 und 2015 eine
ethnographische Feldforschung in drei Wohnhäusern und einer Werkstätte für Menschen mit Lernschwierigkeiten durchgeführt. Die Datenanalyse berücksichtigt die Erkenntnisse der
Praxistheorie und ist angelehnt an die Grounded Theory und die Situational Analysis.
Ich argumentiere, dass in den Einrichtungen versucht wird, Menschen mit Lernschwierigkeiten zu autonomen Subjekten aufzuwerten. Durch die Praktiken erfolgt dabei allerdings eine Einschreibung in die abhängige Subjektform, da die betreuten Personen einerseits über einen zu geringen Level an
Fähigkeiten verfügen, um den Anforderungen der dafür nötigen Selbstbestimmung und Selbstständigkeit gerecht zu werden, und andererseits es die implizite Aufgabe der BetreuerInnen ist,
die Haushaltsführung so effizient wie möglich zu gestalten. Das erschließt sich aus der Analyse der handlungsleitenden Ziele in den Alltagspraktiken und in den handlungsanweisenden
Schriftdokumenten der Organisationen. Ersichtlich wird, dass das Ziel Versorgen und Konsumieren in den Praktiken sehr präsent ist, und Selbstbestimmung und Selbstständigkeit der BewohnerInnen
zwar favorisiert werden, jedoch im Alltag nur bedingt handlungsleitend sind. Das steht im Widerspruch zu den schriftlichen Dokumenten, die Selbstbestimmung und Selbstständigkeit an erster Stelle benennen, jedoch Versorgen und Konsumieren als leitendes Ziel weitestgehend ignorieren.
Daraus entsteht ein Spannungsfeld, in dem alle Beteiligten verhaftet sind.
Wie Differenz in der Wertigkeit hergestellt wird, zeigt diese Arbeit anhand des Ineinandergreifens unterschiedlicher Differenzmechanismen. Folgende fünf wurden diesbezüglich identifiziert: die Einordnung in die Kategorie Nicht-/Behinderung, die Nichterreichung des Normlevels an Fähigkeiten,
die Abweichung von der menschlichen Form, das un/doing difference Konzept und die verknüpfende Instanz der Behindertenbetreuungssite. In diesem Zusammenhang argumentiere ich, dass Differenz situativ und durch stabilere Einordnungen erfolgt, die sich in (neuen) Handlungskategorien
manifestiert. Die Stabilisierung der Differenz ereignet sich durch das Wechselspiel zwischen Praktiken und der Behindertenbetreuungssite — jene Instanz, die das Denken und die Praktiken formt und gleichzeitig von diesen konstituiert wird.