Abstract (deu)
Gegenstand der vorliegenden Dissertation ist eine historische Untersuchung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik am Beispiel der Mathematik im Nationalsozialismus. Dabei werden zwei unterschiedliche theoretische Ansätze miteinander kombiniert. Zum einen eine historische Diskursanalyse, in deren Zentrum der Begriff der (scientific) persona bzw. des Forschertyps gestellt wird mit dem Ziel, die Entwicklung und den Wandel des wissenschaftlichen Selbstverständnisses von Mathematikern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Zum anderen die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik als Ressourcenensemble. Zu Beginn dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, den Diskurs über die angewandte Mathematik im Zeitraum zwischen 1900 und 1945 im deutschsprachigen Raum zu rekonstruieren. Dabei wird gezeigt, dass das Selbstverständnis der Mathematiker in dieser Zeit einem Wandel unterworfen war, bei dem das Verhältnis zwischen reiner und angewandter Mathematik einen wichtigen Aspekt dar-stellte. Bereits relativ früh wurde in diesem Zusammenhang die Ansicht formuliert, dass es für die angewandte Mathematik, insbesondere die Industriemathematik einen eigenen Typus von Mathematiker benötige, der in den Grenzgebieten zu den technischen und anderen Wissenschaften eingesetzt werden könnte. Es wird dafür argumentiert, dass sich dieser Diskurs bis in die Zeit der NS-Herrschaft fortsetzte und dort auch in die wissenschaftspolitischen Planungen des Regimes einfloss. Im Anschluss daran wird die These formuliert, dass die Diplomprüfungsordnung für Mathematik, die im Jahr 1942 in Kraft getreten ist, als Versuch verstanden werden kann, gezielt angewandte Mathematiker auszubilden, um auf diese Weise auf die im Diskurs artikulierten Problembefunde zu reagieren. Ein konkretes Fallbeispiel für das Verhältnis des NS-Regimes zur Mathematik wird anhand der Entwicklung der Disziplin an der Universität sowie der Technischen Hochschule Wiens nach dem „Anschluss“ 1938 diskutiert. Dabei wird gezeigt, dass die Mathematik schon lange vor 1938 nicht frei war von politischen Gräben und Brüchen. So war der „Anschluss“ für einige der historischen Akteure eher mit der Hoffnung verbunden, durch die neuen politischen Verhältnisse einen Zugewinn an Ressourcen und damit auch an Bedeutung für die Disziplin generieren zu können. In die-sem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, in welcher Form Mathematiker aus Wien durch ihre Arbeit an den politischen und militärischen Projekten und den damit verfolgten Zielsetzungen des nationalsozialistischen Regimes partizipierten.