Abstract (deu)
Der Geburtsort Benito Mussolinis, Predappio, wird seit Jahrzehnten von neofaschistischen Gruppierungen in Form von „Pilgerfahrten“ alljährlich zu drei Jahrestagen, dem Geburts- und Todestag Mussolinis sowie dem Marsch auf Rom, aufgesucht. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, durch eine hermeneutische Untersuchung der zentralen Narrative der italienischen Erinnerungspolitik die Bedeutung und Rolle Predappios offenzulegen und Wechselwirkungen zwischen erinnerungspolitischen Aktivitäten der Zentralregierung und lokalen Initiativen zu analysieren. Mithilfe von Archivmaterial aus dem italienischen Staatsarchiv in Rom, dem Staatsarchiv in Forlì sowie zahlreichen Zeitungsartikeln werden chronologisch, beginnend mit 1945, für die Zeit bis in die 1980er Jahre die wesentlichen erinnerungspolitischen Epochen Italiens anhand des Beispiels Predappio analysiert. Die Fragen, die dabei gestellt und beantwortet werden sollen, sind etwa jene nach den Ursprüngen des bis heute dominierenden Phänomens rund um die „Pilgerströme“ und den Reaktionen darauf aus Rom und aus dem Ort selbst oder auch welche Veränderungen, vor allem in Hinsicht auf den erinnerungspolitischen Narrativen, sich im genannten Zeitablauf in Predappio ergaben.
Beginnend mit den ersten zaghaften Versuchen im Jahr 1945 und weiteren, in der Arbeit analysierten Beispielen aus den späten 1950er Jahren, den frühen 1970er Jahren und 1980er Jahren zeigt sich die zunehmende Veränderung der zentralen Narrative der italienischen Erinnerungspolitik rund um den Antifaschismus und den Neofaschismus, deren Dualismus den italienischen soziopolitischen Diskurs seit 1945 prägt. Die Existenz eines seit Jahrzehnten kontinuierlichen Pilgerstroms nach Predappio und dessen politische Ideologisierung auf nationaler und lokaler Ebene sind nicht nur Ausdruck einer unvollständigen Aufarbeitung des faschistischen Erbes, sondern auch Zeuge eines bis heute andauernden Krieges um die Vergangenheit in der Gegenwart. Ziel der Arbeit ist nicht nur einen Überblick über die besondere Bedeutung von Predappio zu geben, sondern auch die erinnerungspolitischen Folgen für Italien offenzulegen, um den Konflikt der Vergangenheit in der Gegenwart besser zu verstehen.