Abstract (deu)
Petitionen bildeten eine besondere Variante der öffentlichen Meinungsäußerung beziehungsweise privaten Kommunikation mit den Herrschaftsträgern in der Sowjetunion. Es handelte sich um Bittschriften, Beschwerden und sonstige Stellungnahmen der Bevölkerung an die verschiedenen Instanzen von Staat und Partei. Ziel des Schreibens war es, private Interessen durchzusetzen beziehungsweise auf gesellschaftliche Mängel aufmerksam zu machen. Auf diese Weise vermittelten die Briefe der Werktätigen dem Staat Stö-rungen in allen Bereichen öffentlichen (zum Beispiel Arbeit, Konsum) und privaten Lebens (zum Beispiel Wohnen).
Der politisch-ideologisch aufgebaute Staat führte die Kommunikation mit dem Bürger, um einerseits in dessen Sorgen und Nöte Einblick zu haben (Signalisierungseffekt), andererseits um die Kontrolle in der „sozialistischen Demokratie“ zu behalten (Dampfkesseleffekt). Aus diesem Grunde förderte der Staat das Petitionswesen, beispielsweise, indem Beschwerdebüros eingerichtet oder Beschwerdekästen in staatlichen beziehungsweise öffentlichen Einrichtungen aufgestellt wurden. Unter diesen Bedingungen unternahmen die Bürger einzeln, kollektiv oder anonym Schreibversuche, um sich aus den Zwängen der Mangelwirtschaft zu befreien. Somit stellte das Petitionswesen ein Kommunikationspara-digma zwischen Staat und Gesellschaft dar. Es führte zu einer Praxis der Bitt- und Beschwerdekultur seitens der Bevölkerung und der Sozialdisziplinierung seitens des Staates. De facto trat der Zustand einer verkehrten Wirklichkeit ein: Im Sinne der Partei übernahm der Bürger eine aktive Gestaltungsrolle am Aufbau des sozialistischen Ideals, während die Verfasser von Briefen sich eigentlich nicht selten mit einem letzten Hilferuf aus dessen Zwängen zu befreien versuchten.
Neben der Erforschung der alltagskulturellen und -historischen Diskurse in den Briefen der Werktätigen umfasst der Schwerpunkt der Dissertation folgende Bereiche: die Reflexion des Konsens/Dissens hinsichtlich der Politik der Sowjetunion, Beobachtung der Kritikäußerung, Feststellung der sprachlichen Dependenzverhältnisse der forcierten Öffentlichkeit in den Medien und der „Ersatzöffentlichkeit“ in den Briefen, Verifizierung des Einsatzes der Denunziation, Gewalt und Drohung sowie sprachliche Analyse der Quellen (Formation der rhetorischen Strukturen).
Die Absicht der empirischen Analyse ist die Erschließung des bewussten beziehungsweise unbewussten Handelns in einer fragmentierten Öffentlichkeit unter herrschaftlichen Zu-sammenhängen sowie der inneren Werthaltung in Bezug auf die Sowjetisierung Litauens. Im historischen und sprachwissenschaftlichen Rahmen wurde untersucht, inwieweit in-nerhalb der Kommunikation mit der kommunistischen Elite ein nonkonformes, systemre-sistentes beziehungsweise systemangepasstes sprachliches Denken und Handeln vorhan-den war, konstant blieb oder sich veränderte. Die Untersuchung des Petitionswesens half dabei, die Grenzen der Loyalität aufzuspüren, und lieferte Antworten darauf, in wieweit ein absoluter Herrschaftsanspruch „die Stimme des Volkes“ in die (Non)Konformität drängte.