Abstract (deu)
Die Biodiversitätskrise ist in vollem Gange und unzählige Insektenarten sind betroffen. Ihre Funktionen in Ökosystemen und für uns Menschen sind unersetzlich. Daher sammeln Wissenschaftler Daten, um das Ausmaß der Krise zu quantifizieren und Lösungen zu finden. Die Erfassung neuer Daten und deren Vergleich mit historischen Stichproben ist für solche Analysen von grundlegender Bedeutung.
In meiner Dissertation habe ich einen Blick in die Vergangenheit geworfen und anhand seltener Langzeitdaten rekonstruiert, wie sich die Artenzusammensetzung von Nachtfaltern im isolierten Waldreservat Pineta san Vitale (Nordostitalien, Ravenna) verändert hat. Aus historischen Museumssammlungen und eigenen, empirischen Daten aus 15 Jahren wurde eine Zeitreihe von insgesamt über 80 Jahren erstellt.
Dann habe ich nach Lösungen gesucht, um die Kombination von historischen und empirischen Daten so zuverlässig wie möglich zu analysieren. Der erste Schritt bestand darin, das Anflugverhalten von 1426 Nachtfaltern an einer künstlichen Lichtquelle zu beobachten. Dabei habe Ich zwischen zwei Verhaltensweisen unterschieden: 1) Tiere, die sich unmittelbar nach der Ankunft bei der Lichtquelle setzen und dort sitzen bleiben, und 2) Tiere, die weiterhin aktiv um die Lichtquelle fliegen. Dieser Unterschied im Verhalten führt bei einer manuellen Erfassung zu keinem Fehler, da alle Individuen berücksichtigt werden. Bei automatischen Fallen hingegen gelangen einige Nachtfalter vermutlich nicht in den Auffangbehälter, wenn sie sich sofort setzen. Dies führt zu einer Unterrepräsentation bestimmter Taxa, z.B. sind kleine Arten aus den Gruppen Nolidae, Eupitheciini und Lithosiini in Fallenfängen oft gering vertreten. Ich habe auch herausgefunden, dass dies von der Umgebungstemperatur abhängt. Bei kühleren Temperaturen tendieren auch mittelgroße Nachtfalter dazu, sofort nach Ankunft am Licht sitzen zu bleiben. Infolgedessen können Stichproben aus Automatikfallen bei der Analyse von Nachtfaltergemeinschaften zu einem verzerrten Ergebnis führen.
Um mögliche Ursachen für langfristige Veränderungen des Artenreichtums von Nachtfaltern in Pineta san Vitale zu analysieren, habe ich mich dafür interessiert, welche Rolle die Sukzession der Vegetation im Lebensraum dabei spielt. Aufgrund historischer Aufzeichnungen bin ich davon ausgegangen, dass die Vegetationsfolge nach der Unterschutzstellung des Gebietes zum Verlust offener Lebensräume zu Gunsten des Waldes geführt hat. Ich habe daher erwartet, dass unter den Nachtfaltern Spezialisten für offene Lebensräume im Laufe der Zeit verschwunden sind, während gleichzeitig waldgebundene Arten zugenommen haben sollten. Es stellte sich auch die Frage, ob die Sukzession die vielfältigen, möglichen anthropogenen Einflüsse, die auf das Reservat aus seiner Umgebung einwirken, kompensieren kann. Dem entsprechend habe ich geprüft, ob es eine gerichtete Veränderung in der Artenzusammensetzung der Nachtfalter im Reservat gegeben hat, zum Beispiel, dass größere oder spezialisierte Arten in diesem isolierten Gebiet ein höheres Aussterberisiko haben.
Für diese Analyse habe ich historische (1933–1976: 107 Arten; 1977–1996: 157 Arten) und eigene empirische Daten (1997–2002: 174 Arten; 2011 + 2012: 187 Arten) verglichen. Leider ist es nicht bekannt, wie historische Sammlungen zusammengestellt wurden. Individuen von Arten, welche für Sammler attraktiv erschienen, wurden möglicherweise häufiger mitgenommen und sind folglich überrepräsentiert. Für meine Arbeit musste ich daher diese potenziellen Fehlerquellen berücksichtigen, indem ich beispielsweise nur Inzidenzdaten verwendet habe, da die Individuenzahlen in den Belegserien vom Fallentyp oder den Sammelgewohnheiten früherer Entomologen abhängen.
Dabei habe ich herausgefunden, dass der Anteil der Habitat-Generalisten an allen registrierten Nachtfaltern in über 80 Jahren von 20 auf 33% gestiegen ist. Im Gegensatz dazu nahmen sowohl Wald- als auch Offenlandarten um 10 Prozentpunkte ab. Wenn man nicht die Anteile, sondern die absolute Anzahl der Arten betrachtet, waren für Waldarten und Habitat-Generalisten die Gewinne größer als die Verluste. Insgesamt sind 18 Arten verschwunden, die offene Lebensräume bevorzugen und 10 Arten, die Schilflebensräume bevorzugen.
Das Reservat Pineta san Vitale hat aufgrund der Sukzession massive Veränderungen in seiner Vegetationsstruktur erfahren. Dies ist auf die Aufgabe der extensiven Waldnutzung zurückzuführen. Ich schließe aus meinen Ergebnissen, dass Habitat-Generalisten besser als Habitat-Spezialisten in der Lage sind, von Menschen veränderte Landschaften zu durchqueren, um ein isoliertes Habitat-Fragment wie Pineta san Vitale neu zu besiedeln. Ich komme auch zu dem Schluss, dass die durch Sukzession verursachte Bildung einer naturnahen Waldstruktur die Anzahl der Nachtfalter-Arten im Laufe der Jahrzehnte erhöht hat. Dieser Effekt könnte groß genug sein, um mögliche Auswirkungen anthropogener Einflüsse, wie einen erhöhten Salzgehalt des Bodens oder den Einsatz von Pestiziden, in den nahe gelegenen landwirtschaftlichen Flächen, zu kompensieren.
Meine Auswertungen zeigen, dass das lokale Aussterberisiko tatsächlich mit der Größe der Tiere und ihrem Grad an ökologischer Spezialisierung zusammenhängt. Die Spezialisierung wurde einmal grob klassifiziert nach 1) Larvenfutterzugehörigkeiten, Präferenzen für Lebensräume der adulten Tiere und der nördlichen Verbreitungsgrenze in Europa und 2) durch Analyse der funktionellen Dispersion (Streuung) innerhalb von Artengruppen (FDis) über die Zeit, auf der Basis einer feiner aufgelösten Betrachtung von 12 Arteigenschaften („Traits“). Lokal verloren gegangene Arten (mittlere Flügelspannweite: 36,9 mm) waren im Durchschnitt größer als persistente (33,2 mm) oder zuvor nicht erfasste Arten (30,7 mm). Durch die Verwendung grober Kategorien zur Klassifizierung der Spezialisierung konnte ich keinen Zusammenhang zum lokalen Aussterberisiko aufdecken. Hingegen bei der Verwendung des multivariaten FDis-Maßes gab es signifikante Unterschiede. Daher sind einfache Klassifizierungssysteme möglicherweise nicht empfindlich genug, um subtile Änderungen im Spezialisierungsgrad der Nachtfaltergemeinschaft abzubilden. Im Gegensatz dazu war FDis informativer, da diese Analysemethode eine Vielzahl ökologischer Nischendimensionen widerspiegelt. Nach dem Ende der extensiven anthropogenen Waldnutzung in Pineta san Vitale scheint sich die Zusammensetzung der Nachtfalter in Richtung waldaffiner Arten verschoben zu haben, was zu einem Rückgang der FDis-Werte führte (nicht zu verwechseln mit dem Rückgang der Anteile von Waldarten). Multivariate Analysen bestätigten auch eine allgemeine Veränderung der Artenzusammensetzung in den letzten 80 Jahren.