Abstract (deu)
Diese an der Schnittstelle von historischer Holocaust-Forschung und turkologisch ausgerichteter Politik- und Sozialgeschichte angesiedelte Arbeit widmet sich anhand einer Beleuchtung des Schicksals türkischer Jüd*innen (im Herrschaftsbereich des NS-Regimes, sowie in der Türkei) den ideologischen Diskrepanzen der kemalistischen Ideologie im temporalen Rahmen 1938-1945/46. Damit versuchen die folgenden Seiten eine Brücke zwischen zwei in der Forschung fest etablierten und bearbeiteten Zweigen (Theorie und Praxis des Kemalismus; Holocaust-Forschung) darzustellen, die bis dato eher selten miteinander verbunden wurden – die angesichts der im öffentlichen Raum nach wie vor bestehenden und reproduzierten Meistererzählungen, die die Republik Türkei als sicheren Hafen für Jüd*innen idealisieren, jedoch verstärkte Aufmerksamkeit verdienen. Anhand eines breit aufgestellten Quellenkorpus (Oral History Interviews, Zeitungsmeldungen, verschiedene Archivdokumente, Editionen, Datenbanken etc.), dessen genrespezifische Vielfalt einen möglichst facettenreichen Überblick über die behandelten Thematiken geben soll, werden Diskrepanzen zwischen einzelnen kemalistischen Prinzipien (insbesondere zwischen milliyetcilik und laiklik), sowie Brüche und Unstimmigkeiten in den etablierten, oft retrospektiv konstruierten Meistererzählungen exemplarisch dargestellt, wobei die unter anderen von Erik Zürcher postulierte Kontinuität soziopolitischer und soziokultureller Strukturen des Osmanischen Reichs in der Republik Türkei als Basis der Überlegungen herangezogen wird. Aufbauend auf einzelnen, die Passivität der Republik Türkei in Hinblick auf das Schicksal türkischer Jüd*innen unter dem NS-Regime darstellenden Fallstudien und teils umfangreichen Arbeiten zu einzelnen Aspekten kemalistischen social engineerings wird ein diachron angelegtes, zwei verschiedene Herrschaftsformen und mehrere Jahrzehnte umspannendes Bild nationalistisch motivierter, homogenisierender politischer Strukturen gezeichnet, die einmal mehr die Kontinuitätsthese sowohl auf der Ebene der gesetzten Handlungen und etablierten Diskurse, als auch auf personeller Ebene bestätigen.