Abstract (deu)
Leiblichkeit ist die Grundlage der menschlichen Wahrnehmung. Wegen ihrer Subjektivität und Vorsprachlichkeit wird sie jedoch kaum wissenschaftlich untersucht. Die vorliegende Arbeit folgt der These, dass die wissenschaftliche Erforschung von Leiblichkeit unter Einsatz theatraler Praktiken möglich ist und überprüft dies sowohl theoretisch als auch praktisch anhand einer Untersuchung der kollektiven, leiblichen Disposition nach dem 1. Covid-19-Lockdown mit einer Gruppe von acht Mit-Forscher*innen (im Alter von 20-40 Jahren) in Wien.
Die Autorin stellt dazu eine eigens entwickelte Methodik vor, die sich auf die Arbeit mit Körpergesten stützt. Gesten sind leiblicher Ausdruck und körperliches Symbol zugleich und ermöglichen daher, Leiblichkeit sichtbar, dokumentierbar, zitierbar und analysierbar zu machen und so die Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens zu erfüllen. Zur Überprüfung der Wissenschaftlichkeit orientiert sich die Autorin an den wissenschaftlichen Idealen nach Tetens. Die angewandte Methodik gründet sich auf Rauhs aisthetischer Feldforschung, dem Situationistischen Dérive, Boals Bildertheater, Übungen zur sinnlichen Wahrnehmung nach Stanislawski und dessen Schüler*innen sowie Übungen des Improvisations- und Tanztheaters. Die Analyse fußt terminologisch vor allem auf Schmitz‘ Alphabet der Leiblichkeit sowie Labans Antriebslehre und kombiniert Ansätze aus Sozialforschung und Theaterwissenschaft.
Die methodischen Bestandteile wurden anhand der konkreten Untersuchung entwickelt, getestet und reflektiert. Dafür wurden Experimente im privaten und öffentlichen Raum durchgeführt und die beobachteten Körpergesten analysiert. Dabei zeigte sich, dass im Mai 2020 die Reizempfänglichkeit gestiegen war, die Zuwendbarkeit des Antriebs jedoch reduziert. Bestehende Tendenzen zu geringerer Reizempfänglichkeit im Innenraum bzw. gesteigerter im Freien wurden verstärkt. Untersuchungen mit Mund-Nasen-Schutz zeigten die Doppelung von Berührungsverbot und -begehren sowie eine Vermischung der leiblichen und symbolischen Wirkung des Mund-Nasen-Schutzes. Bis November 2020 waren die beobachteten Entwicklungen wieder rückläufig.
In dieser Arbeit wird erstmals eine Methodik zur gezielten, wissenschaftlichen Untersuchung von Leiblichkeit vorgestellt und die Möglichkeit der wissenschaftlichen Arbeit mit theatralen Praktiken theoretisch fundiert, mit dem Anspruch, Leiblichkeit sichtbar und sprachlich reflektierbar zu machen.