Title (deu)
Zwischen partikularer Selbstaffirmation und universalistischen Befreiungsansprüchen
Paulo Freires 'Pägagogik der Unterdrückten' im Lichte radikaler Modernekritik
Author
Jonathan Scalet
Advisor
Johann Schelkshorn
Assessor
Johann Schelkshorn
Abstract (deu)
Mit seinem Hauptwerk „Pädagogik der Unterdrückten“ wurde der Brasilianer Paulo Freire ab den 1960er Jahren als anti-kolonialer Denker des Globalen Südens international bekannt. Bis heute gilt er vielen, vor allem dekolonialen Autor_innen als Wegbereiter einer dialogischen Dezentrierung eurozentrischer Bildungs- und Wissenskonzepte. Zugleich wurde Freire jedoch immer auch als Denker in der Tradition der europäischen Aufklärung interpretiert und geriet im Zuge postkolonialer Theoriebildung daher selbst unter „Eurozentrismusverdacht“. Obwohl in Brasilien entwickelt, basiere die „Pädagogik der Unterdrückten“ demnach auf westlichen epistemischen Grundlagen und sei mit ihrem universalistischen Befreiungsanspruch selbst ein kolonialer Akt, der nicht-westliche Kulturen und Wissenssysteme unterminiere. Diese auf den ersten Blick paradoxe Rezeption sucht die vorliegende Arbeit mit Hilfe einer doppelten Analyse der Befreiungspädagogik differenzierend zu klären. Erstens wird das Freire‘sche Denken dafür in seinem geopolitischen, soziokulturellen und vor allem ideengeschichtlichen Kontext verortet. Dabei zeigt sich die Befreiungspädagogik als Teil einer längeren lateinamerikanischen Denktradition, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit den komplexen Auswirkungen kolonialer Herrschaft und die Suche nach „authentischer“ Unabhängigkeit und Selbstbestimmung steht. Diese Tradition basiert in der Tat wesentlich auf europäischen Einflüssen, versucht diese jedoch vor dem Hintergrund der eigenen historischen Erfahrung neu zu interpretieren und strategisch zum Zweck anti-kolonialer Befreiung anzueignen. Zweitens werden die zentralen Anliegen, Elemente und Grundannahmen des Freire‘schen Denkens, anhand eines „Close Readings“ der „Pädagogik der Unterdrückten“, einer detaillierten Konzeptanalyse unterzogen. Zum Vorschein kommt ein dialektisch geprägtes Befreiungsverständnis, das die Selbstbestimmung marginalisierter Gruppen und die Vielgestaltigkeit menschlicher Lebensrealitäten und -entwürfe ins Zentrum rückt, zugleich jedoch auf universalistischen theoretischen Annahmen und ethischen Ansprüchen beharrt. Diese zeitigen zwar problematische eurozentrische Verzerrungen und Leerstellen; allerdings enthält die Befreiungspädagogik gerade in ihren universalistischen Grundannahmen auch starke Impulse für eine epistemische Dezentrierung und Pluralisierung geschlossener Wissenssysteme und drängt damit selbst darauf, ihren eigenen Ansatz zu öffnen und in wechselnden historischen und sozio-kulturellen Kontexten dialogisch neu zu bestimmen.
Abstract (eng)
With his classic "Pedagogy of the Oppressed”, Brazilian Paulo Freire became internationally known as an anti-colonial intellectual of the Global South in the 1970s. To this day he is considered by many, especially decolonial scholars and activists, as a pioneer of a dialogical decentering of Eurocentric concepts of education and knowledge.
At the same time, Freire was always interpreted as a thinker in the tradition of the European Enlightenment and came under suspicion of "Eurocentrism" in the course of postcolonial theory formation. Although developed in Brazil, "Pedagogy of the Oppressed" was based on Western epistemic foundations and with its universalist claim to liberation – so the critique – was itself a colonial act that undermined non-Western cultures and knowledge systems. This thesis attempts to clarify this seemingly paradoxical reception through a double analysis of liberation pedagogy in a differentiating way.
First, Freire's thinking is located in its geopolitical, sociocultural and, above all, ideological-historical context. In this perspective, liberation pedagogy shows itself to be part of a longer Latin American tradition of thought, which centers on confrontation with the complex effects of colonial domination and the search for "authentic" independence and self-determination. Indeed, this tradition is substantially based on European influences, but seeks to reinterpret and strategically appropriate them against the backdrop of its own historical experience for the purpose of anti-colonial liberation.
Second, the central concerns, elements, and basic assumptions of Freire's work are subjected to a detailed conceptual analysis, based on a "close reading" of "Pedagogy of the Oppressed". What emerges is a dialectically-shaped understanding of liberation that focuses on the self-determination of marginalized groups and the diversity of human realities and conceptions, but also insists on universalistic theoretical assumptions and ethical-political claims. This understanding does indeed produce problematic Eurocentric distortions and voids. However, precisely in its universalistic basic assumptions, liberation pedagogy embodies strong impulses to an epistemic decentering and pluralization of closed systems of knowledge, and pushes for opening its approach and dialogically redefining it in changing historical and socio-cultural contexts.
Keywords (deu)
BefreiungspädagogikDekolonialisierungPostkolonialismusEurozentrismusDouble-Bind
Keywords (eng)
liberation pedagogydecolonisationpostcolonialismeurocentrismdouble-bind
Subject (deu)
Subject (deu)
Subject (deu)
Subject (deu)
Subject (deu)
Subject (deu)
Type (deu)
Persistent identifier
Extent (deu)
176 Seiten
Number of pages
180
Study plan
Masterstudium Internationale Entwicklung
[UA]
[066]
[589]
Association (deu)
Title (deu)
Zwischen partikularer Selbstaffirmation und universalistischen Befreiungsansprüchen
Paulo Freires 'Pägagogik der Unterdrückten' im Lichte radikaler Modernekritik
Author
Jonathan Scalet
Abstract (deu)
Mit seinem Hauptwerk „Pädagogik der Unterdrückten“ wurde der Brasilianer Paulo Freire ab den 1960er Jahren als anti-kolonialer Denker des Globalen Südens international bekannt. Bis heute gilt er vielen, vor allem dekolonialen Autor_innen als Wegbereiter einer dialogischen Dezentrierung eurozentrischer Bildungs- und Wissenskonzepte. Zugleich wurde Freire jedoch immer auch als Denker in der Tradition der europäischen Aufklärung interpretiert und geriet im Zuge postkolonialer Theoriebildung daher selbst unter „Eurozentrismusverdacht“. Obwohl in Brasilien entwickelt, basiere die „Pädagogik der Unterdrückten“ demnach auf westlichen epistemischen Grundlagen und sei mit ihrem universalistischen Befreiungsanspruch selbst ein kolonialer Akt, der nicht-westliche Kulturen und Wissenssysteme unterminiere. Diese auf den ersten Blick paradoxe Rezeption sucht die vorliegende Arbeit mit Hilfe einer doppelten Analyse der Befreiungspädagogik differenzierend zu klären. Erstens wird das Freire‘sche Denken dafür in seinem geopolitischen, soziokulturellen und vor allem ideengeschichtlichen Kontext verortet. Dabei zeigt sich die Befreiungspädagogik als Teil einer längeren lateinamerikanischen Denktradition, in deren Zentrum die Auseinandersetzung mit den komplexen Auswirkungen kolonialer Herrschaft und die Suche nach „authentischer“ Unabhängigkeit und Selbstbestimmung steht. Diese Tradition basiert in der Tat wesentlich auf europäischen Einflüssen, versucht diese jedoch vor dem Hintergrund der eigenen historischen Erfahrung neu zu interpretieren und strategisch zum Zweck anti-kolonialer Befreiung anzueignen. Zweitens werden die zentralen Anliegen, Elemente und Grundannahmen des Freire‘schen Denkens, anhand eines „Close Readings“ der „Pädagogik der Unterdrückten“, einer detaillierten Konzeptanalyse unterzogen. Zum Vorschein kommt ein dialektisch geprägtes Befreiungsverständnis, das die Selbstbestimmung marginalisierter Gruppen und die Vielgestaltigkeit menschlicher Lebensrealitäten und -entwürfe ins Zentrum rückt, zugleich jedoch auf universalistischen theoretischen Annahmen und ethischen Ansprüchen beharrt. Diese zeitigen zwar problematische eurozentrische Verzerrungen und Leerstellen; allerdings enthält die Befreiungspädagogik gerade in ihren universalistischen Grundannahmen auch starke Impulse für eine epistemische Dezentrierung und Pluralisierung geschlossener Wissenssysteme und drängt damit selbst darauf, ihren eigenen Ansatz zu öffnen und in wechselnden historischen und sozio-kulturellen Kontexten dialogisch neu zu bestimmen.
Abstract (eng)
With his classic "Pedagogy of the Oppressed”, Brazilian Paulo Freire became internationally known as an anti-colonial intellectual of the Global South in the 1970s. To this day he is considered by many, especially decolonial scholars and activists, as a pioneer of a dialogical decentering of Eurocentric concepts of education and knowledge.
At the same time, Freire was always interpreted as a thinker in the tradition of the European Enlightenment and came under suspicion of "Eurocentrism" in the course of postcolonial theory formation. Although developed in Brazil, "Pedagogy of the Oppressed" was based on Western epistemic foundations and with its universalist claim to liberation – so the critique – was itself a colonial act that undermined non-Western cultures and knowledge systems. This thesis attempts to clarify this seemingly paradoxical reception through a double analysis of liberation pedagogy in a differentiating way.
First, Freire's thinking is located in its geopolitical, sociocultural and, above all, ideological-historical context. In this perspective, liberation pedagogy shows itself to be part of a longer Latin American tradition of thought, which centers on confrontation with the complex effects of colonial domination and the search for "authentic" independence and self-determination. Indeed, this tradition is substantially based on European influences, but seeks to reinterpret and strategically appropriate them against the backdrop of its own historical experience for the purpose of anti-colonial liberation.
Second, the central concerns, elements, and basic assumptions of Freire's work are subjected to a detailed conceptual analysis, based on a "close reading" of "Pedagogy of the Oppressed". What emerges is a dialectically-shaped understanding of liberation that focuses on the self-determination of marginalized groups and the diversity of human realities and conceptions, but also insists on universalistic theoretical assumptions and ethical-political claims. This understanding does indeed produce problematic Eurocentric distortions and voids. However, precisely in its universalistic basic assumptions, liberation pedagogy embodies strong impulses to an epistemic decentering and pluralization of closed systems of knowledge, and pushes for opening its approach and dialogically redefining it in changing historical and socio-cultural contexts.
Keywords (deu)
BefreiungspädagogikDekolonialisierungPostkolonialismusEurozentrismusDouble-Bind
Keywords (eng)
liberation pedagogydecolonisationpostcolonialismeurocentrismdouble-bind
Subject (deu)
Subject (deu)
Subject (deu)
Subject (deu)
Subject (deu)
Subject (deu)
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Persistent identifier
Number of pages
180
Association (deu)
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