Abstract (deu)
Ausgehend von der politischen und medialen Fokussierung auf fluchtbezogene Themen und der Einführung restriktiver Grenzmaßnahmen in den Jahren 2015/2016 beschäftigt sich diese Dissertation mit Grenznarrativen von Asylwerber:innen in Österreich. Es werden die Fragen behandelt, was Geflüchtete während ihrer Flucht und in ihrem Alltag in Österreich als ‚Grenze‘ erfahren und wie sie sich diesen Erfahrungen gegenüber positionieren. Die kritisch-ethnographische Arbeit kombiniert Erkenntnisse der fluchtbezogenen Grenzforschung mit soziolinguistischen Ansätzen. Ein dynamischer und prozessorientierter Grenzbegriff bietet die theoretisch-konzeptionelle Basis für die Untersuchung multipler räumlicher und soziosymbolischer Grenzprozesse. Methodisch verbindet die Arbeit mehrere Zugänge: Mittels teilnehmender Beobachtung in einer Grundversorgungseinrichtung in Wien geht die Arbeit dem Unterkunftsalltag und Handlungsmöglichkeiten der Bewohner:innen nach. In Fotobefragungen und semistrukturierten Interviews geben Bewohner:innen und weitere Personen mit Fluchterfahrung Auskunft zu wichtigen Orten in ihrem Alltag, ihrer aktuellen Situation, ihren Wohnumständen und ihrem (Flucht-)Weg nach Österreich. In weiteren semistrukturellen Interviews wurden Mitarbeiter:innen der Unterkunft nach ihrer Wahrnehmung des Lebens in der Unterkunft gefragt. Bei der Analyse der Interviews kommen positionierungstheoretische Ansätze zur Anwendung, mit denen herausgearbeitet werden kann, wie sich Interviewpartner:innen gegenüber dem Erzählten, dominanten Diskursen, verschiedenen Personen, der Interviewsituation und Forscherin verorten. In der Analyse wird ferner berücksichtigt, wie in den Forschungsinterviews Grenz- und Fluchterfahrungen elizitiert werden und inwiefern auf Grenzen sprachlich Bezug genommen wird. Die Arbeit zeichnet das Spannungsfeld, dem Bewohner:innen und Sozialarbeiter:innen angesichts der restriktiven Asylpolitik, der Einschnitte in der sozialstaatlichen Versorgung und der paradoxen gesellschaftlichen Diskurse ausgesetzt sind, nach. Es wird gezeigt, wie sich die Interviewpartner:innen diesen Diskursen gegenüber positionieren, unterwerfen, aber auch Coping- und Gegenstrategien entwickeln. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass in der Darstellung der Flucht Grenzen zwar selten explizit erwähnt werden, dass aber gleichwohl Grenzregime dort sehr deutlich – etwa in der charakteristischen Abwechslung von physischer Mobilität und erzwungener Immobilität, die die Narrative prägt – hervortreten. Diese Regime erstrecken sich, wie die Analyse zeigt, weit in das Leben von Asylwerber:innen in Österreich hinein und manifestieren sich z.B. in multiplen Handlungsbegrenzungen und (Selbst-)Positionierungen in den Forschungsinterviews. Diese Dissertation bietet nicht nur Einblicke in die subjektive Bedeutung von Grenzerfahrungen und unsicheren Lebenslagen von Asylwerber:innen, sondern verdeutlicht auch, wie sich die andauernde Ungewissheit in den Interviews, z.B. im Sprechen über die Gegenwart und vergangene Erfahrungen niederschlägt. Angesichts des Forschungssettings der Arbeit, das von Prekarität, multiplen Grenzziehungen und Ungleichheiten (bspw. zwischen Forschender und Informant:innen) geprägt ist, nimmt die Arbeit auch einen dezidiert reflexiven Blick ein und plädiert für – potentiell unbequeme – kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Positionalität sowie Involviertheit als Forscher:in und der Situiertheit von Interviewdaten.