Abstract (deu)
Zusätzlich zu ökologischen Anforderungen werden Anforderungen des Soziallebens als entscheidender Faktor für die Entwicklung von Intelligenz betrachtet. Das Beobachten von Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern und das Merken ihres Ausgangs kann zu einem vielschichtigen Wissen über Gruppenmitglieder führen und den Tieren dabei helfen, die Intentionen von Artgenossen richtig zu deuten bzw. ihr Verhalten vorherzusagen. Die Fähigkeit soziale Information zu verarbeiten und entsprechende Verhaltensanpassungen vorzunehmen wird als soziale Kompetenz bezeichnet. Es wird angenommen, dass es innerhalb der Mitglieder einer Gruppe zu beträchtlichen Unterschieden betreffend soziales Wissen und sozialer Kompetenz kommen kann, ähnlich wie beim Lernen oder Problemlösen. Solche individuellen Unterschiede könnten erklären, wie sich Tiere im sozialen Umfeld verhalten, wie gut sie eingebunden sind und wie sehr sie auf soziale Information achten. Wenn das soziale Umfeld dynamisch ist und sich durch ein Kommen und Gehen der Individuen auszeichnet, könnten die individuellen Unterschiede im sozialen Wissen und der sozialen Kompetenz mit den demographischen Merkmalen wie die Anzahl der aufgesuchten Gruppen und die Verweildauer in diesen zusammenhängen.
Man weiß von nicht-brütenden Raben, dass sie große individuelle Unterschiede in ihrer Ortsdynamik zeigen, wobei einige Vögel konsistent an einem Ort bleiben („Lokale“), während andere viel herum kommen („Wanderer“). Diese Muster gehen mit unterschiedlichen sozialen Anforderungen einher: Lokale bleiben ständig in derselben Gruppe, während Wanderer immer wieder mit neuen Gruppen konfrontiert sind. Es ist unbekannt, welche Faktoren dafür ausschlaggebend sind, ob Raben zu Lokalen oder Wanderer werden und wie sich das auf ihre Kognition auswirkt. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel mittels Beobachtungs- und experimentellen Ansätzen diese Wissenslücke zu füllen.
Die ersten beiden Kapiteln untersuchen den Einsatz von Kognition bei einer wildlebenden Gruppe von nicht-brütenden Kolkraben in zwei verschiedenen Situationen: i) wenn sie untereinander um Futter konkurrieren (Kapitel 1) und ii) wenn sie anhand von Alarmrufen das Risiko eines Raubfeindangriffs abschätzen (Kapitel 2). In den nächsten beiden Kapiteln wird die Aufmerksamkeit von individuellen wilden Raben (Kapitel 3) bzw. in Gefangenschaft erbrüteter Raben (Kapitel 4) gegenüber sozialer Information experimentell getestet und mit der sozialen Dynamik bzw. frühkindlichen sozialen Erfahrung in Zusammenhang gesetzt. Konkret wird in Kapitel 3 die Hypothese getestet, dass die Aufmerksamkeit gegenüber simulierten Interaktionen von der Ortsdynamik der Raben (Lokale, Wanderer) abhängig ist; in Kapitel 4 wird getestet, ob die Aufmerksamkeit gegenüber sozialen Kategorien variiert und mit frühkindlicher sozialer Erfahrung zusammenhängt.
Zusammengefasst ergeben die Resultate folgendes Bild: währen Erfahrung bzw. soziales Wissen bei Entscheidungsfindungen der Raben klar eine Rolle spielt, zeigen die individuellen Unterschiede in der Orts- und Gruppendynamik keinen messbaren Einfluss. Diese teilweise überraschenden Ergebnisse werden in Hinblick auf jüngste Resultate von anderen Arten betreffend individuelle Unterschiede in sozialer Kognition diskutiert. Zudem wird darüber spekuliert, wie Kognition das Leben von Raben aus sozialer und ökologischer Sicht beeinflussen könnte.