Abstract (deu)
Ausgehend vom Aufkommen künstlicher Kontrazeptiva in den USA und der damit verbundenen Frage nach Vereinbarkeit mit der katholischen Ehe- und Sexualethik kommt der US-amerikanische Philosoph Germain Gabriel Grisez zu dem Schluss, dass die katholische Sexualmoral einer grundlegenden Erneuerung bedürfe. Sein Versuch einer solchen Erneuerung ist die Grundlage der sog. New Natural Law Theory, eine der wohl einflussreichsten Moraltheorien des 20. Jahrhunderts. Ziel dieser Erneuerung ist es, die Engführungen der Naturrechtsethik durch die neuscholastische Theologie und die damit einhergehenden logischen Fehlschlüsse zu überwinden und zum eigentlichen Naturrecht des Thomas von Aquin zurückzukehren. Dieses soll das Fundament sein, auf dem eine moderne christliche Moral begründet werden soll. Die vorliegende Arbeit geht daher der Frage nach, worin gerade das „Neue“ der sog. New Natural Law Theory (NNL) besteht, stellt das Naturecht doch bis in die Gegen-wart eine der wesentlichen Grundlagen der lehramtlichen Moral in der katholischen Kirche dar. In einem ersten Schritt wird daher die Polysemie des Naturbegriffs in den Blick genommen, um so den Wandel der Verstehensweisen in ihrem historisch-kulturellen Kontext sichtbar zu machen. Die Auffassung dessen, was man als Natur-recht versteht, kann je nach wissenschaftlicher Disziplin divergieren. Will man daher einen neuen Naturrechtsansatz in den Ethikdiskurs einbringen, gilt es zu klären, welches Verständnis von Naturrecht diesem zugrunde gelegt wird und in welchem wissenschaftlichen Rahmen sich die Argumentation folglich bewegt. Anschließend werden einzelne wichtige Entwicklungsstränge des Naturrechtsdenkens beleuchtet. Hierbei wird deutlich, dass die Naturrechtsaufassung von Aristoteles klar von jener der Stoa divergiert und die mittelalterlichen Naturrechtskonzeptionen des Thomas von Aquin von den neuzeitlichen Ansätzen der Spätscholastik in veränderter Form fortgeführt werden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Differenzierung zwischen dem deutschsprachigen und dem US-amerikanischen Naturrechtsdiskurs. Ausgehend davon wird anschließend der Neuansatz von Germain Grisez in den Blick genommen. Die NNL ist über mehrere Jahrzehnte hinweg entstanden und kontinuierlich von Grisez aber auch von seinen Mitstreiter*innen weiterentwickelt worden. Dementsprechend umfangreich ist die Quellenlage, die es hierbei zu berücksichtigen gilt. Ausgehend von den Überlegungen von Grisez werden die Grundlagen seiner Naturrechtstheorie rekonstruiert und einer systematischen Kritik unterzogen. Leitend ist hierfür die Frage, inwieweit die NNL tatsächlich eine Naturrechtstheorie im klassischen Sinn darstellt und sie ihrem Anliegen, die bisherigen Engführungen und Fehlschlüsse zu überwinden, tatsächlich gerecht werden kann. Hierbei wird deutlich, dass die entwickelte Güterethik – die sog. basic good theory – das zentrale Element der Theorie darstellt, auf das alle übrigen Prinzipen und Subtheorien hin ausgerichtet sind. In einem weiteren Schritt wird der Frage nachgegangen, inwieweit die hier skizzierten Grundlagen der NNL auf das Feld der praktischen Ethik angewandt werden können. Hierzu wurde der Bereich der Ehe- und Sexualmoral gewählt, der wie ein roter Faden das Denken von Germain Grisez durchzieht. Zur besseren Einordnung der Theorie steht am Beginn der Auseinandersetzung ein Überblick über die naturrechtlichen Argumentationsmodelle zur Sexualmoral innerhalb der katholischen Theologie. Ausführlich wir hierbei auf die „Theologie des Leibes“ von Papst Johannes Paul II. eingegangen, die einen wesentlichen Bezugspunkt Grisez darstellt. Die NNL geht zudem von einer Komplementarität zwischen den Geschlechtern aus und leitet daraus eine Geschlechtertheorie ab, in der die Frau dem Mann klar untergeordnet ist. Daraus ergeben sich schwerwiegende Folgen für das Ehe- und Sexualitätsverständnis, das dieser Theorie zugrunde liegt. Hinsichtlich der Bewertung sexueller Handlungen wird der Fokus wesentlich auf die Intention der handelnden Personen gelegt, wodurch eine klare Zurückweisung gewisser Handlungen als unmoralisch ermöglicht und die katholisch-lehramtliche Moraltheorie abschließend verteidigt werden soll. Die vorliegende Arbeit rekonstruiert die Moraltheorie von Germain Grisez auf Basis seiner anthropologischen und systematischen Überlegungen, unterzieht sie einer systematisch-ethischen Kritik und untersucht deren Anwendbarkeit auf den Bereich der Ehe- und Sexualethik. Damit soll insbesondere für den theologischen Diskurs im deutschen Sprachraum die Basis einer fundierten Auseinandersetzung mit diesem Naturrechtsansatz gelegt werden.