Märchen sind eine allen Kulturkreisen bekannte Textgattung und werden hierzulande häufig als an Kinder gerichtete moralisierende Erzählungen betrachtet. Ein Blick auf die Märchenforschung zeigt jedoch, dass dem beliebten Genre eine anhaltende Faszination innewohnt, die über dieses Bild weit hinausgeht. Die vorliegende Arbeit reiht sich in diese Forschung ein und gibt anhand einer textanthropologischen Untersuchung einen Einblick in die mögliche Interpretation von Zaubermärchen als textlich verfestigte Initiationsriten. Nach einer einführenden Betrachtung sowohl der Märchenforschung als auch der Konzepte rund um Übergangsriten, Initiationen und deren Textualisierung liegt der Fokus auf der Anwendung der von Metzeltin und Thir entwickelten Textanthropologie anhand des französischen Märchens Persinette aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert. Dabei wird der Text der Autorin Mlle de la Force zunächst einem Märchentyp zugeordnet und in seinen soziohistorischen Kontext der höfischen Salongesellschaft eingebettet. In der textanthropologischen Analyse und Interpretation wird das Märchen auf die von Metzeltin und Thir vorgeschlagenen Erzählmomente (Narrateme) einer prototypischen Initiationssequenz untersucht. Dadurch wird ersichtlich, dass im Märchen Persinette zwei Initiationsriten zugleich textlich verfestigt sind, beide ziemlich genau dieser vorgeschlagenen Sequenz entsprechen und auch zu erwartende Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Initiation aufweisen. Schließlich lassen die Ergebnisse vermuten, dass diese initiatische Struktur ein derart unserem menschlichen Sein innewohnendes Denkschema ist, dass es immer wieder in verschiedenen semiotischen Produkten verfestigt und reproduziert wird.

Fairy tales, a genre well-known in all cultures, are often regarded as moralising stories aimed at children. However, a look at fairy tale research clearly reveals an ongoing fascination of this popular genre that extends far beyond this image. The present work contributes to this research and provides an insight into the possible interpretation of fairy tales as textually solidified initiation rites by means of a textual-anthropological investigation. Following an exploration of both fairy tale research and the concepts surrounding rites of passage, initiations and their textualisation, the emphasis of this paper is on the application of the text-anthropological approach by Metzeltin and Thir to the late 17th century French fairy tale Persinette. Mlle de la Force’s text is first assigned to a fairy tale type and embedded in its socio-historical context of courtly salon society. In the analysis and interpretation, the fairy tale is examined to identify the narrative moments (narratemes) of a prototypical initiation sequence proposed by Metzeltin and Thir. As a result, it is shown that two initiation rites are simultaneously realised textually in Persinette, both of which correspond fairly precisely to the proposed sequence and also present some of the expected differences between male and female initiations. Finally, the results suggest that this initiatic structure is a thought pattern so inherent to our human existence that it is repeatedly reproduced in various semiotic products.