Abstract (deu)
Österreichs einziges Atomkraftwerk (AKW), Zwentendorf, ist ein faszinierender Ort. Das liegt daran, dass es nie ein AKW war. Obwohl der Bau des Kraftwerks im Jahr 1978 abgeschlossen war, wurde es nach einer Volksabstimmung, die ganz knapp gegen das AKW ausfiel, nicht in Betrieb genommen. Heute wird das Gelände auf vielfältige Weisen genutzt, beispielsweise als Trainingszentrum für Kernkraftwerksmitarbeitende aus anderen Ländern, Filmkulisse oder Eventlocation. AKW Zwentendorf ist außerdem ein kulturell sehr bedeutender Ort für Österreich: Die knappe Abstimmung gegen die Inbetriebnahme wird gemeinhin als der Anfang des landesweiten Anti-Atom-Konsens gedeutet, welcher zu einem zentralen Bestandteil der österreichischen nationalen Identität geworden ist. Diese Masterarbeit erforscht die öffentlichen Führungen durch das AKW Zwentendorf, im Rahmen derer jedes Jahr tausende Menschen das Kraftwerk besuchen. Ziel der Führungen ist es, den Besuchenden zu erklären, wie Atomkraft funktioniert, was sie zu einem Beispiel von Wissenschafts- und Technikkommunikation macht. Gleichzeitig wird auf den Führungen die Geschichte der Atomkraft in Österreich und ihre Verflechtung mit der nationalen Identität (neu-)verhandelt. Diese Aspekte verbinden die Führungen durch das AKW mit der Frage, wie Wissenschaft, Technik und Gesellschaft miteinander verwoben sind und werden, die in den Science and Technology Studies (STS) gestellt wird. In Anlehnung an neuere STS-Ansätze zur Erforschung der Wissenschafts- und Technikkommunikation versteht die vorliegende Arbeit die öffentlichen Führungen durch das AKW als performativ. Damit ist gemeint, dass die Führungen aktiv bestimmte Versionen von Wissenschaft und Technik sowie andere beteiligte Entitäten, wie beispielweise Vorstellungen der kollektiven Vergangenheit und Zukunft, hervorbringen. Arbeiten, die einen solchen konstruktivistischen Blickwinkel aufweisen, haben sich bisher vor allem mit Beispielen von Wissenschafts- und Technikkommunikation auseinandergesetzt, die Wissenschafts- und Technikpolitik direkt beeinflussen wollen. Außerdem haben frühere Studien häufig den Fokus darauf gelegt, wie diese Aktivitäten bestimmte Öffentlichkeiten produzieren, während andere zentrale Aspekte der Wissenschafts- und Technikkommunikation, wie Raum oder Emotionen, wenig berücksichtigt wurden. Die vorliegende Masterarbeit leistet einen Beitrag zu dieser Literatur, indem sie am Beispiel der Führungen durch das AKW, die keine direkten Verbindungen zur Politik aufweisen, illustriert, dass alle Arten von Wissenschafts- und Technikkommunikation das Potenzial haben, die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Technik und Gesellschaft zu gestalten. Das wird insbesondere an den Interaktionen der Führungen mit gängigen Vorstellungen der Geschichte der Kernenergie in Österreich sowie einer atomfreien österreichischen Zukunft deutlich. Darüber hinaus untersucht diese Masterarbeit vielfältige Dimensionen der Führungen, darunter räumliche Aspekte, und rückt so ihre Heterogenität in den Vordergrund. Um die Performativität der Führungen zu erfassen, nutzt die vorliegende Masterarbeit Co-Production als theoretischen Hintergrund. Darüber hinaus greift sie auf den Kulturbegriff der Cultural Studies zurück, welcher Kultur als Produktion und das in Umlauf bringen von kollektiven Bedeutungen begreift. Das erlaubt es zu verstehen, wie die Führungen mit ihrem kulturellen Kontext interagieren. Methodisch wurde ein ethnographischer Ansatz gewählt. Durch das Begleiten mehrerer Führungen und anschließende Interviews mit Besuchenden konnte offen untersucht werden, was die Führungen hervorbringen.