Abstract (deu)
Während sich soziologische Diskurse seit langem mit gesellschaftlichem Wandel befassen, haben neuere dekoloniale Kritiken dessen traditionelle Ansätze herausgefordert. Die Entstehung indigener Universitäten in Lateinamerika bietet eine neue Perspektive auf autonome und alternative Wissensproduktion, die westliche Diskurse über epistemische Dekolonisierung in Frage stellt. Diese Masterarbeit zeigt, wie die Universidad Autónoma Comunal de Oaxaca (UACO) und die Universidad Campesina Indígena en Red (UCIRED) als indigene Universitäten die soziologische Wissensproduktion neu formulieren, indem sie diese in den gelebten Erfahrungen des indigenen antikolonialen Widerstands begründen und zugleich die Soziologie der Gesellschaftstransformation informieren. Die Arbeit untersucht zunächst die historische Perspektive der Soziologie der gesellschaftlichen Transformation innerhalb des deutschsprachigen Diskurses und geht dann auf die soziologische Imagination und die öffentliche Soziologie als dessen Schlüsselkonzepte ein. Es wird ein Überblick über die Soziologische Imagination gegeben, wobei die zentralen Säulen, die normativen Grundlagen, die epistemischen Strategien der Gesellschaftstransformation und die Rezeption im Mittelpunkt stehen. Anschließend wird die Öffentliche Soziologie, ihre konstitutiven Dimensionen, ihre epistemische Struktur, ihre Konzeptualisierung der Gesellschaftstransformation und ihre Rezeptionsgeschichte analysiert. Der erste Teil schließt mit einer vergleichenden Analyse beider Konzepte ab und zeigt auf, wie sie Monokulturen des Wissens produzieren und welches Potenzial in diesen Diskursen für eine neue, kritische Konzeption der Soziologie der Gesellschaftstransformation liegt. Zweitens wird für die epistemische Unterdrückung als Bindeglied zwischen den epistemischen Privilegien der genannten Konzepte und den Herausforderungen der indigenen Universitäten auf ihrem Weg zu einer autonomen Wissensproduktion argumentiert. Sie führt die Zone des Nicht-Seins, die Epistemizide und den internen Kolonialismus ein, um die historischen und aktuellen Spaltungen innerhalb der Geopolitik des akademischen Wissens zu verstehen und die Auswirkungen der langanhaltenden Effekte des Kolonialismus auf die Wissensproduktion zu erfassen. Anschließend wird diese Heuristik angewandt, um verschiedene Ordnungen epistemischer Unterdrückung innerhalb der soziologischen Wissensproduktion zu identifizieren und damit aufzuzeigen, wie die Unterdrückung indigenen Wissens die Grundlage für globale Wissenshierarchien bildet, die das soziologische Denken und akademischen Wissensstrukturen prägen. Drittens werden zwei indigene Universitäten und ihre antikoloniale Praxis der akademischen Wissensproduktion untersucht. Nach einem allgemeinen Überblick über das Thema wird die doppelte Geschichte der indigenen Bildungspolitik in Mexiko als Strategie zur ‚Zivilisierung‘ der indigenen Bevölkerung und als nationalstaatliches Instrument zur Modernisierung nachgezeichnet, um aufzuzeigen, dass diese Bemühungen mit umfassenderen Prozessen der Rassifizierung, Kolonisierung und Patriarchisierung verbunden sind. Nichtsdestotrotz wird unterstrichen, dass diese Entwicklungen für die Entstehung indigener Universitäten notwendig waren. Anschließend werden mit Hilfe ethnographischer Methoden die UACO und die UCIRED als Fallbeispiele für indigene Universitäten untersucht. Die Arbeit argumentiert einerseits für die UACO als indigene Universität, die hegemoniale akademische Praktiken kritisch hinterfragt und herausfordert. Indem sie sich auf indigene Diskurse der Comunalidad stützt, bietet sie durch ihre horizontalen Organisationsstrukturen, ihr kommunales Lernen und ihre kommunale Forschung, die in lokalen Kämpfen für indigene Rechte verankert ist, eine neue Vision der akademischen Wissensproduktion, die auf indigenen Kosmologien beruht. Andererseits wird dargestellt, dass die UCIRED eine ephemere Universität repräsentiert, die auf der Befreiungspädagogik, den Lerngemeinschaften, der Produktion von Artilugios als situativen Wissensartefakten und ihrem Ziel, Akteure eines radikalen sozialen Wandels auszubilden, basiert. Anschließend werden beide Ansätze miteinander verglichen, wobei die epistemische Unterdrückung, die Konzeptualisierung alternativer Wissensproduktion und die Gesellschaftstransformation im Zentrum der Analyse stehen. Viertens schließt die Arbeit mit einem Argument für indigene Universitäten als deprofessionalisierte öffentliche Soziologie ab, die autonome und antikoloniale Wissensproduktion in den Mittelpunkt stellt. Folgend werden die Auswirkungen dieses Konzepts auf die professionalisierte Soziologie erörtert. Sie unterstreicht die Notwendigkeit einer Ethik des Nicht-Wissens in professionalisierten soziologischen Diskursen und betont, dass die Anerkennung der Praktiken antikolonialer Bewegungen als eigenständige Theorien von entscheidender Bedeutung für eine Auseinandersetzung mit historisch abwesenden und unsichtbaren Wissensformen ist. Schließlich wird festgehalten, dass die Disziplin durch einen systematischen Dialog unter Anwendung pluritopischer Hermeneutik mit indigenen Universitäten zu neuen Formen des Denkens und der Imagination von soziologischer und akademischer Wissensproduktion wie zur Gesellschaftstransformation durch eine antikoloniale und kritische Brille beitragen kann.