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Zusammenfassung
Meldungen von Gewalt an Kindern und Jugendlichen durch Vertreter der Katholischen Kirche haben in den vergangenen Jahren weltweit die Öffentlichkeit erschüttert. In Österreich wurde zur Aufarbeitung der Gewaltfälle die von Waltraud Klasnic geleitete Opferschutzkommission (UOK) eingesetzt, an die sich Betroffene wenden konnten, um von ihren Erlebnissen zu berichten, und nach entsprechender Prüfung finanzielle Unterstützung und/oder klinisch-psychologische bzw. psychotherapeutische Unterstützung erhielten.
Das Forschungsteam der Fakultät für Psychologie der Universität Wien hat diese Aufarbeitung wissenschaftlich begleitet und jene Betroffenen, die sich dazu bereit erklärt haben, anhand standardisierter klinischer Fragebögen und teilstrukturierter Tiefeninterviews untersucht. Darüber hinaus wurden die der Kommission vorliegenden Daten (Erlebnisse, Taten, Täter , biografische Auswirkungen etc.) der teilnehmenden Betroffenen auf Basis des psychotraumatologischen Rahmenmodells von Maercker (2009) analysiert. Im vorliegenden Projektbericht wird die wissenschaftliche Vorgehensweise dokumentiert, es werden die ersten Ergebnisse präsentiert und darauf basierend Empfehlungen hinsichtlich der psychosozialen Versorgung und kommissionellen Tätigkeiten erteilt. Hierbei handelt es sich um ein unabhängiges Forschungsvorhaben, das durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank finanziert und bei der Weltgesundheitsbehörde (WHO) registriert wurde.
Insgesamt wurden die Daten von 448 Betroffenen [339 Männer (75,7%), 109 Frauen (24,3%)] analysiert. Davon haben 185 Personen [141 Männer (76,2%), 44 Frauen (23,8%)] an der Fragebogenuntersuchung teilgenommen, von diesen Personen haben wiederum 48 ein Tiefeninterview gegeben. In der Fragebogenuntersuchung sticht hervor, dass 90 von 185 Teilnehmern (48,9%) in einem Screeningverfahren (PCL-C) eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) aufweisen. Etwa zwei Drittel der teilnehmenden Frauen und knapp die Hälfte der Männer sind davon betroffen. Insgesamt leiden 152 (82,6%) Personen unter einzelnen Symptomen der Störung (z.B. wiederkehrende Erinnerungen, Alpträume oder Flashbacks, physiologische Reaktionen). In einem weiteren Verfahren, das verschiedene Symptome psychischen Leids misst (BSI), zeigt sich ein besonders hoher Anteil an Personen, die in den Skalen „Paranoides Denken“ [131 (70,8%)], „Depressivität“ [119 (64,7%)] und „Somatisierung“ [116 (63,0%)] deutlich erhöhte Werte aufweisen.
Aufgrund von Mehrfachnennungen kann zwar keine Aussage über die tatsächliche Anzahl der Beschuldigten gemacht werden, aus der Datenanalyse der 448 Studienteilnehmer ergibt sich jedoch, dass 164 Personen Gewalt durch eine einzelne Person berichten, bei allen übrigen Betroffenen ist von mindestens zwei Personen auszugehen. Diese sind in allen Kirchenämtern zu finden, zwar sind auch hier keine absoluten Zahlen erhebbar, der größte Anteil liegt in Relation der Häufigkeiten bei Ordensangehörigen (die häufig die Funktion von Erziehern in katholisch geführten Institutionen inne hatten) sowie Patres und Pfarrern. Mehr als ein Drittel der Gewalttaten fand in Heimen , ein weiteres Drittel in Internaten statt. Aber auch kirchlich geführte Schulen und Pfarren wurden häufig als Tatorte angegeben.
Aus dem Aktenstudium ließen sich außerdem die Formen der Gewalt, denen die Kinder und Jugendlichen ausgesetzt waren, erschließen. Die Vielzahl an Gewalttaten wurde durch einen mehrstufigen Prozess in sogenannte Cluster unterteilt. Diese Cluster sind voneinander unabhängig und stehen in keiner hierarchischen Ordnung zueinander. Es ergeben sich dreizehn Cluster aus dem Bereich der körperlichen Gewalt (z.B. körperliche Gewalt mit Verletzungsfolgen, Prügel/Schläge mit Gegenständen, Schlafentzug), zehn Cluster zu sexuellen Gewalttaten (z.B. Vergewaltigung durch mehrere Täter, orale sexuelle Handlungen, Berührungen im Intimbereich) und elf, die sich den psychischen Gewaltarten zuschreiben lassen (z.B. Isolation/Abschirmung von Außenwelt, Ausnützung des Autoritätsverhältnisses, Demütigungen/Beschimpfungen). In den Akten der Betroffenen werden außerdem traumaspezifische Folgen der Gewalterlebnisse durch Therapeuten und die Betroffenen selbst beschrieben. Auch hier erfolgte eine Clustereinteilung, bei der sich zeigt, dass 94 (21,0%) der Betroffenen unter Intrusionen, 67 (15,0%) unter Scham- oder Schuldgefühlen und 51 (11,4%) unter Schlafschwierigkeiten leiden. Bei den psychosozialen Folgen werden von 165 (36,8%) der Betroffenen Beziehungs- und sexuelle Probleme beschrieben. 114 (25,4%) Personen berichten heute unter Ängsten, Traurigkeit und Hilflosigkeit zu leiden, die sie auf die Gewalterlebnisse in der Kindheit zurückführen. Brüche in der biografischen Entwicklung (z.B. Ausbildung, beruflicher Weg) werden von 108 (24,1%) der Betroffenen genannt.
Aus den Ergebnissen und den derzeit in Österreich vorzufindenden Angeboten psychosozialer Versorgung ergeben sich mehrere Empfehlungen: Niederschwelliger Zugang zu Behandlungsangeboten, traumaspezifische Behandlungszentren, Implementierung wirksamkeits-geprüfter Behandlungsmethoden der komplexen PTBS, Etablierung expertenunterstützter Selbsthilfeangebote und Psychoedukation. Aufgrund der Rückmeldungen der Tiefeninterviews ergeben sich außerdem folgende Empfehlungen an Kommissionen, die mit der Aufarbeitung von Gewalt betraut sind: Schaffung niederschwelliger Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, transparente Beschreibung der kommissionellen Tätigkeit, organisatorischer Abläufe und Prozesse der Entscheidungsfindung, beschleunigte Bearbeitungsdauer, Etablierung einer unabhängigen staatlichen Kommission mit symbolische Verantwortungsübernahme und als Instanz, die gegenüber allen involvierten Institutionen die Rechte von Opfern von Missbrauch und Gewalt konsequent einfordert.