Description (xx)
Im Kontext einer vom Leitbegriff des Fortschritts ausgehenden Musikanschauung, wie sie im mittleren 19. Jahrhundert besonders im nord- und mitteldeutschen Raum sowie in Frankreich verbreitet war, wurden im polemischen Sinne mit dem Wort ›Kontrapunkt‹ vermeintlich überholte musikalische Stilrichtungen und eine veraltete Musiklehre assoziiert. Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, inwieweit solche negativen Konnotationen nicht zuletzt auf Probleme und innere Widersprüche der zeitgenössischen Kontrapunktlehre zurückgehen. Am Beispiel der Behandlung des zweistimmigen Satzes in Kontrapunkt-Traktaten von Luigi Cherubini und Siegfried Wilhelm Dehn wird gezeigt, dass sich die Lehre von ihrem stilistischen Ausgangspunkt, der Spätrenaissance, entfernte, ohne sich gänzlich von ihm zu lösen. Das Festhalten an Johann Joseph Fuxʼ Gattungs-Methode, das Übernehmen Fux’scher modaler Cantus firmi bei Cherubini und die Einbeziehung historischer Literaturbeispiele bei Dehn widersprechen der von beiden Autoren gleichermaßen vertretenen Auffassung von Zweistimmigkeit als einem reduzierten Akkordsatz, dem Zugrundelegen der harmonischen Tonalität sowie der Ablehnung bestimmter für die Musik des 16. Jahrhunderts charakteristischer Satzmodelle durch Cherubini. Bei Dehn widerspricht überdies die Berücksichtigung verschiedener Taktarten und Tempi dem auf den ›tactus alla breve‹ ausgerichteten Konzept der Gattungen. Auf die Vielzahl von Problemen reagierte Heinrich Bellermann, indem er in seinem Lehrbuch die Orientierung an der Vokalpolyphonie einschließlich ihrer modalen Grundlagen zum Prinzip erklärte. Dass aktuelle Musik gleichwohl einen Einfluss auf seine Lehre ausübte, zeigt sich bei einem Notenbeispiel aus Bellermanns Der Contrapunkt, das sich als Außenstimmensatz eines modifizierten Tristan-Zitats interpretieren lässt.
During the mid-nineteenth century, there was a school of thought claiming that counterpoint had become an outdated and obsolete musical doctrine. The use of the term provoked debate and controversy among critics, composers and performers alike. This stance was particularly prevalent in northern and central Germany as well as in France. This essay explores to what extent these negative connotations originated in the problems and inner contradictions in contemporary counterpoint teaching. Using examples of two-voice counterpoint in treatises by Luigi Cherubini and Siegfried Wilhelm Dehn, we can see how counterpoint departed from its stylistic point of origin (the late renaissance), without cutting the ties with this tradition completely. Both Cherubini and Dehn were followers of Johann Joseph Fux and his method of species counterpoint. Cherubini adhered to Fux’s modal plainsong while Dehn favoured musical examples from the sixteenth century. In contrast to such historicist approaches, however, the two theorists regarded two-voice settings as a reduction of chordal texture. Moreover, they used harmonic tonality as a basis and Cherubini dismissed structural models characteristic of sixteenth-century music. Dehn further challenges the species counterpoint concept by changing metre and tempo, making his results incompatible with the ›tactus alla breve‹ model. Heinrich Bellermann reacted to this multitude of problems by redefining the rules of vocal polyphony. He did so by reinstating modal fundamentals as the defining principle. The influence of the music of his time on Bellermann’s method can be observed in an example from his book Der Contrapunkt, which may be interpreted as the outer voices of a modified Tristan citation.