Abstract (deu)
1869 schreibt der französische Wissenschafter Camille Flammarion von den Seelen Verstorbener, die die Vergangenheit dieser und jeder anderen Welt in einer Art ewigem (Lichtbild-)Archiv im Weltall gespeichert vorfinden und visuell noch einmal wahrnehmen können. Die notgedrungen in Schriftform verfasste Utopie verweist in ihrer alten Form (noch dem "Regime des Symbolischen" unterstellt) bereits auf mediale Praktiken einer fernen Zukunft und fungiert in diesem speziellen Fall als Vorwegnahme filmspezifischer Wahrnehmung vor Realisierung entsprechender Apparatur. Literatur kann also Filmbilder beschreiben und gleichzeitig Filmbilder enthalten, Filmbild sein, so lautet die These. Folgt man diesem Gedankengang, so stellt sich früher oder später zwangsläufig die Frage ob der Beginn von Kino tatsächlich erst mit der ersten öffentlichen Filmvorführung im Dezember 1895 datiert werden kann. Anschließend an die Theorien der "New Film History" versucht die vorliegende Arbeit mit solchen kausal-teleologischen Zäsuren und Argumentationsweisen traditioneller Geschichtsschreibung zu brechen. Bereits im geschriebenen Wort finden sich Anleihen einer damals noch zukünftigen, im Werden begriffenen, Medientechnik, -kultur und -wahrnehmung. Als logische Folge solcher Überlegungen müssen auch diese als imaginäre Stränge eines Kino-Dispositivs verstanden werden. Dem historischen Konzept einer einzelnen Evolutionslinie wird also eine Vielzahl heterogener, mehr oder weniger deutlich (ko)operierender, Vorgeschichten entgegengestellt. Des Weiteren könnte es für die (Film-)Geschichtsschreibung dienlich sein, das Denkbare als zumindest möglich anzunehmen bzw. den Versuch zu wagen, die Charakteristika utopischer Literatur für die eigene Forschung handhabbar zu machen: Gewagte Thesen, riskante Gedankengänge und Prognosen, kurz gesagt, der Mut zur Phantasie, könnte(n) dabei behilflich sein, das mediale Gestern, Heute, und Morgen zumindest annähernd zu fassen.