Abstract (deu)
Nach einer Einführung in die Erscheinungsform, Geschichte und Interpretationen des Tarantismus und seines Ausläufers auf der Penisola salentina, des Neotarantismus (Terminus geprägt von Anna Nacci im Jahre 2001), hat sich die vorliegende Diplomarbeit auf die Ein- und Umschreibung des Mythos der taranta pugliese und des mit ihr verbundenen Personen- und Therapiekomplexes konzentriert, welche in der italienischen Literatur vollzogen wurden. Dabei wurde der Aufnahme des Stoffes des Tarantismus und der mit ihm verbundenen Motive – wie die taranta (d.h. die Spinne), der (ri-)morso ([erneute] Biss bzw. Gewissensbiss), das (Spinnen-)Gift, die Musiktherapie und der ihr inhärente Heiltanz (mit Musikern) sowie die Besessenheit – sowohl in der Literatur des italienischen Kanons (beginnend mit Castigliones Il libro del Cortegiano bis zur Poetik des Leccesers Vittorio Bodini) als auch in der Gegenwartsliteratur (Angelo Morino, die Erzählsammlung Mordi&Fuggi et al.) nachgegangen. Es sollte untersucht werden, welche Funktionen dieser „Fortschreibung“ rund um die apulische Tarantelspinne – die sich in dieser Forschungsarbeit als ‚mise en abîme’ abzuheben scheint – innewohnen und ob ihre nicht mehr nur aleatorische ‚Präsenz’ in der Vorstellungswelt der italienischen GegenwartsautorInnen nur im Rahmen der neotarantismo-Bewegung der 90er-Jahre in der Subregion des Salento gelesen werden kann. Diese Bewegung kann als ein Wiederaufkommen und Forttragen des Kultes des Tarantismus bezeichnet werden, wie es unter anderem sein berühmtester Erforscher, Ernesto De Martino, 1959 niemals geahnt hätte (vgl. die jahrhundertelange Abwertung dieses Ritus sowie seines Personals bzw. der gesamten salentinischen Halbinsel). Auf der Suche nach dem mit dem Tarantismus verbundenen Motivkomplex konnten bestimmte leitmotivische weibliche Figurencharakterisierungen in der italienischen Gegenwartsliteratur ausgemacht werden, die auf interessante Weise von dem Entwurf der tarantata classica, der typischen Tarantelbesessenen des italienischen Literaturkanons, abweichen. In der modernen Literatur, im Besonderen in den Erzählungen von Mordi&Fuggi, haben sich nämlich trotz vehementer Beeinflussung durch die Bilder und Beschreibungen von De Martino und seinem Forschungsteam (siehe z. B. die Bündelung aller Eigenschaften einer Tarantelbesessenen in der berühmtesten tarantata Maria di Nardò) Metamorphosen des Tarantel-Stoffes auf textinterner Ebene vollzogen. Diese führten schließlich zu gelungenen und authentischen „Übersetzungen“ des klassischen Tarantismus – in weit größerem Maße als die Bewegung des neotarantismo: Anhand der Analyse von drei Geschichten aus Mordi&Fuggi (2007) sowie des „anthropologischen Romans“ Rosso taranta (2006) von Angelo Morino konnte ein neuer literarischer Archetypus in der italienischen Gegenwartsliteratur herausgearbeitet werden: la tarantata moderna, welche sich als ent-rückte, ent-fremdete und ver-rückte Protagonistin abzeichnet, die ähnliche Charakterzüge wie ihre salentinische Vorgängerin, die tarantata classica, trägt. Dieses Typusmotiv (vgl. Frenzel) bezeichnet ein weibliches Figurenpersonal, welches von neuen „Leid-Erfahrungen“ geprägt ist (vgl. il „male di vivere“, Marino Niola) und sich durch körperliche und psychische Alterationen, die Suche nach einem Zustand der epochè, d.h. der temporären Flucht, die Transgression von Grenzen jeglicher Art (zuweilen als Initiationsprozess) sowie Furor bzw. Wahnsinn auszeichnet. Diese unbezähmbaren und zügellosen Protagonistinnen, die viel mit der klassischen Vorgängerin der textexternen tarantata, der Mänade teilen, leben ein ‚Unwohlsein’, das auch oder vor allem in der Verfassung des Menschen – der Frau – des dritten Jahrtausends weitergetragen wird und das bezwungen, ‚geheilt’ werden will. Da aber das Wissen rund um den symbolischen Apparat der Heilung des Tarantelbisses nicht mehr weitergegeben wird (auch nicht auf textexterner Ebene, d.h. in der salentinischen Lebenswirklichkeit; vgl. dazu das Verschwinden von ‚Wahrern’ solcher ‚Ressourcen’ wie dem Musiktherapeuten Luigi Stifani von Nardò oder dem tamburellista Pino Zimba) und auch einige unserer Protagonistinnen gar nicht mehr der „patria elettiva“ des Tarantismus, d.h. Apulien angehören, vollzieht sich selten eine Heilung bzw. ein Wiedereintritt in das alltägliche Leben. Aufgrund der geleisteten Forschungsarbeit konnte das Potenzial der mythischen taranta für die Literatur besonders in den der tarantata zugeschriebenen Charakteristika und Handlungen erkannt werden. Somit lässt sich die moderne italienische Literatur, die um die Tarantelspinne zentriert ist, nicht als Mimesis von De Martinos La terra del rimorso (1961) oder nur als Antwort auf die Nachfrage des apulischen Marktes und die Vermarktung dieses Phänomens lesen, sondern die sospensione della vita, die Ent-rückung aus dem Alltag und der Verfall in oder die Suche nach dem temporären Wahnsinn sowie der zügellose Tanz einer rasenden Frau als antidotum tarantulae oder vitae scheinen vielmehr aktuellen Desiderata gerecht zu werden oder gegenwärtigen ‚Leid-Erfahrungen’ und Daseinsformen Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinne lässt sich auch die triste Feststellung des Ich-Erzählers in Tommaso Di Ciaulas Roman Il dio delle tarantate (2001) verstehen: „Ci manchi tanto cara tarantola.“ (DdT: 34) – Nicht um ein Leid wiederheraufzubeschwören, das an den Tarantismus gebunden ist, sondern um das bereits vorhandene zu lindern („risorsa simbolica“, Clara Gallini), existenzielle Krisen zu bewältigen und an einen jahrhundertealten, strukturierten Ritus des Bruches mit und der Wiedereingliederung in eine Gesellschaft anzuschließen, die ‚Orte des Anderen’ oder ‚des temporären Wahnsinns’ zulässt. Daher scheint folgende Anrufung für unsere Protagonistinnen, die sehr oft keinen ‚offensichtlichen’ (Spinnen-)Biss mehr erleiden und auch keinen funktionierenden Apparat von Kulten (wie die dem Tarantismus inhärente Tanz-, Musik- und Farbtherapie et al.) mehr zur Disposition hätten, passend: „Espelli o tarantola il tuo veleno!” (Tommaso Campanella).
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